Von Tom J. Wellbrock
Wir kennen das: Was auch immer Schlechtes Deutschland widerfährt, der Schuldige ist schnell gefunden, es ist natürlich Putin. Doch nach Solingen bietet sich ein anderer Täter an: Baschar al-Assad. Schließlich kommt der mutmaßliche Täter von Solingen aus Syrien, da liegt es nahe, dessen Regierungschef … Pardon: Diktator in die Verantwortung zu nehmen.
In Syrien habe laut der Tagesschau der Messerangriff von Solingen kein großes mediales Echo erzeugt, und auch Assad interessiere sich nicht sehr für die Tat. Die Tagesschau erklärt den Lesern:
"Den staatlichen Medien in Syrien war der Terrorangriff in Solingen kaum eine Meldung wert – auch nicht die Tatsache, dass der mutmaßliche Täter aus Syrien kam. Der syrische Sicherheitsexperte Navvar Saban hat dafür eine einfache Erklärung: Für Diktator Bashar al-Assad habe der ganze Fall überhaupt nichts mit Syrien zu tun. Ihm sei es egal, ob ein Syrer in Deutschland einen Anschlag begangen habe, so Saban: 'Seit 2013, 2014 behandelt er alle Menschen aus Gegenden, die nicht unter seiner Kontrolle sind, als wären sie keine Syrer.'"
Was für ein Unmensch! Und für Deutschland interessiert Assad sich auch nicht. Dabei hat ein Syrer eine Straftat verübt, das geht doch den Diktator etwas an. Letztlich ist er verantwortlich für die Taten der Syrer, sein Desinteresse kommt also einem Schuldeingeständnis gleich.
Aber es kommt noch schlimmer, berichtet die Tagesschau, denn nach Solingen fühlen sich nun auch Syrer in Deutschland nicht mehr sicher, sie fürchten sich vor Ausgrenzung und Abschiebung. Ob sich nur die, die sich an das Gesetz halten, vor Abschiebung fürchten, oder auch die Kriminellen, ist nicht überliefert.
Aber der Punkt ist ohnehin ein ganz anderer.
Robert Fisk, ein britischer Auslandsjournalist, der von der New York Times als der "wohl berühmteste britische Auslandskorrespondent" bezeichnet wurde, schrieb über Syrien Folgendes:
"'Syrien, 2011: Eine weitere Demonstration für Assad begann … sie mag eine Teilnehmerzahl von 200.000 bis zum Mittag erreicht haben … Es wurden keine Leute wie bei Saddam Hussein herangekarrt zum Omayad Platz (Damaskus) … die einzigen Soldaten standen bei ihren Familien. Wie berichtet man über eine regierungsfreundliche Demonstration während des arabischen Erwachens? Dort waren verschleierte Frauen, alte Männer, tausende von Kindern … wurden sie gezwungen? Ich glaube es nicht."
In einem deutschen Artikel mit dem Titel "Syrien: Demontage eines Landes und seiner Bevölkerung" von 2016/2018 lässt sich nachlesen:
"Syrien (…) hat sich in den letzten rund 45 Jahren in zahlreichen Bereichen weiterentwickelt. So konnte alleine die Kindersterblichkeit von 132 je 100.000 Einwohner im Jahr 1970 auf 14 im Jahr 2010 gesenkt werden. Ähnlich die Müttersterblichkeit, die im gleichen Zeitraum von 482 auf 45 reduziert werden konnte. Es gab Verbesserungen im sozialen Bereich, das Bildungssystem wurde vorangetrieben, Syrien hatte zudem keine Auslandsschulden und ging moderat mit Minderheiten um. Als im Jahr 2011 die Interventionen in Syrien begannen, befand sich das Land mitten in einem Prozess weiterer Veränderungen, mit Kommunalwahlen, neuen Mediengesetzen und mehr Einfluss von Nichtregierungsorganisationen, die Präsident Assad ausdrücklich vorantrieb. Innerhalb der Bevölkerung erfreute sich der Präsident allgemeiner Beliebtheit. Selbst eine NATO-Studie kam 2013 zum Schluss, dass 70 Prozent der Syrier Assad unterstützten. 23 Prozent gaben sich neutral, nur 10 Prozent gaben an, die 'Rebellen' zu unterstützen."
Der Untergang Syriens begann mit der westlichen Intervention. Bis dahin befand sich das Land in einer durchaus positiven Entwicklung, die Zustimmung für Assad war groß, die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung konnte sich sehen lassen. Doch der Westen wollte die Destabilisierung Syriens, so wie er notorisch destruktiv unterwegs ist. Einmal mehr war es die Rüstungsindustrie, die an einem Krieg in Syrien interessiert war.
Pieter D. Wezeman vom "Stockholm International Peace Research Institute" (Sipri) sagte schon 2017:
"Europas Rüstungsindustrie könne aber auch nicht überleben, indem sie nur an europäische Staaten liefere. Sie müsse deshalb Exportmärkte im Ausland finden – 'mehr als jemals zuvor', meint Wezeman. 'Der wirtschaftliche Druck, mit den Waffenlieferungen weiterzumachen, ist sehr hoch.'"
Und so schließt sich der Kreis. Die kriminellen Flüchtlinge benutzen Messer, die große Rüstungsindustrie dagegen Panzer und andere Waffen. Man könnte es auch symbolisch ausdrücken: Wenn man eine Waffe ins Ausland liefert, weiß man nie, ob und über welche Wege sie womöglich den Weg zurück ins eigene Land findet.
Der Autor dieses Textes kann nicht beurteilen, ob die Theorie stimmt, dass massenhafte Zuwanderung einer wie auch immer gearteten Strategie folgt, hinter der welche auch immer geartete Motivation steht, um bei den Menschen welche Emotionen auch immer zu erzeugen. Diesbezüglich gibt es ja allerlei Überlegungen.
Sicher ist sich der Autor dieses Textes aber bezüglich der Ursachen der massenhaften Zuwanderung. Das sind nicht die, die die politisch Verantwortlichen immer vorgeben, angehen zu wollen. Denn sie betrachten die Ursprungsländer und deren politische Systeme als die Ursache für Flüchtlingsbewegungen. Dem ist nicht oder nur selten so. Die Menschen fliehen in großer Zahl aus ihren Heimatländern, weil die dortigen Systeme bewusst vom Westen angegriffen und zerstört werden. So ist es immer, und so ist es auch in Syrien geschehen. Wäre ein Medium wie die Tagesschau seriös, würden deren Leser vieles über die Hintergründe der Lage in Syrien erfahren. Wäre die Tagesschau seriös, wüssten ihre Leser schon seit Jahren, wer welche Interessen in Syrien verfolgt hat und noch immer verfolgt.
Doch die Tagesschau ist nicht seriös, sondern tendenziös, regierungskonform und ein Propagandamedium. Deshalb hat sie sich einmal mehr für den bequemen Weg entschieden und reduziert ihre Berichterstattung auf die Skandalisierung Baschar al-Assads und dessen vermeintliches Desinteresse an der Tat von Solingen.
Mit anderen Worten: In der Sache erfährt der Leser der Tagesschau ein kleines bisschen weniger als nichts. Alles wie üblich.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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