Im Netz wird die algerische Boxerin Imane Khelif angefeindet – für ihre Fans ist sie bereits die Größte. Vor allem für die Frauen. Die Geschichte einer Kämpferin.
Nadia hat ihr weißes Kopftuch im Nacken zusammengeknotet, über ihren Schultern liegt eine algerische Flagge. Zusammen mit ihrer Schwester und einer Freundin ist sie an diesem späten Dienstagabend ins Stadion Roland Garros gekommen. "Ich habe noch nie Frauenboxen live gesehen", sagt die Pariserin. "Aber heute tritt Imane Khelif für alle Algerier an. Obwohl – nee, so ein Quatsch. Ich meine natürlich: Für alle Algerierinnen!"
Ausverkauft ist das Stadion nicht, aber schon rund eine Stunde vor Beginn der Wettkämpfe sind die Ränge gut gefüllt, hunderte grün-weiße Fahnen mit rotem Stern und Halbmond hängen über den Trenngittern. Draußen hört man trillernde Jubelrufe, Megafone, Trommeln. Jeder filmt mit dem Handy, das algerische Fernsehen ist ebenfalls vor Ort: Imane Khelif wird gefeiert wie ein Star. Dass an diesem Abend auch noch andere Kämpfe stattfinden, darunter die Halbfinals im Halbmittelgewicht der Männer – Nebensache.
"Ich bin Hausfrau, ich hab keine Ahnung von Sport", gibt Assia aus dem Pariser Vorort Bondy unumwunden zu. "Heute bin ich hier, weil ich Imane unterstützen will. Wir alle wollen das!" Seit einer Woche muss die 25-jährige algerische Boxerin Imane Khelif einen Kampf ertragen, der jenseits des Rings stattfindet und längst alle Gebote der Fairness ausgehebelt hat: Sie sei keine "richtige" Frau, hieß es nach ihrem 46-Sekunden-Sieg gegen die Italienerin Angela Carini. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) habe einen schweren Fehler gemacht, Khelif dürfe überhaupt nicht am Frauenboxen teilnehmen.
Vorangetrieben werden diese Anschuldigungen von der "International Boxing Association" (IBA). Dieser umstrittene und russisch-dominierte Verband behauptet, ein Geschlechtstest habe bei Khelif im vergangenen Jahr XY-Chromosomen nachgewiesen. Später hieß es, die Testosteronwerte der Algerierin seien erhöht. Für beides – oder anderes, man weiß es nicht so genau – wollten die Verantwortlichen am vergangenen Montag "Beweise" vorlegen. Die virtuell einberufene Pressekonferenz geriet jedoch zur Farce.
Nun ist es ja nicht so, als habe Imane Khelif erst gestern mit dem Boxen begonnen. Seit 2018 nimmt sie an internationalen Wettbewerben teil – muskulös war sie auch zu der Zeit schon, aber nie hatte sich jemand sonderlich für ihr Geschlecht interessiert. Das änderte sich, als sie vergangenes Jahr bei der Box-WM in Indien ein bis dahin ungeschlagenes russisches Nachwuchstalent besiegte. Drei Tage später wurde die Algerierin disqualifiziert, weil sie gegen die Wettbewerbskriterien verstoßen hätte. Die Taiwanesin Lin Yu-ting wurde deswegen ebenfalls von der Weltmeisterschaft ausgeschlossen. In Paris sind beide Sportlerinnen zugelassen. Der Verband IBA hat wegen diverser Skandale die Anerkennung des IOC verloren. Maßgeblich für die Teilnahme an den olympischen Spielen ist, ob die Teilnehmerinnen laut Pass weiblich sind und bisher ausschließlich als Frauen geboxt haben.
Falls in den vergangenen Tagen ein erhöhtes Testosteron-Level spürbar wurde, dann vor allem im Internet: Die Social-Media-Plattform "X“ hat sich zu einem wahren Expertenforum für das "Y"-Chromosom gemausert. Einen der fiesesten Tweets setzte die Harry-Potter-Schriftstellerin J.K. Rowling ab: In Imane Khelifs Gesicht sehe man das "Grinsen eines Mannes", der von einem "frauenfeindlichen" Establishment beschützt werde. Damit wurde Imane Khelif, die als Mädchen geboren und aufgewachsen ist, in den Mittelpunkt einer transfeindlichen Hetzjagd gerückt.
Natürlich kann man die Kategorie "Geschlecht" im Leistungssport nicht ausblenden. Aber leider ist Biologie offenbar verwirrend. Zu ihren Regeln gehört: Jeder Mann hat ein Y-Chromosom. Aber nicht jede Frau wird wegen eines Y-Chromosoms automatisch zum Mann. Bei Männern wiederum kann das Chromosom im Laufe des Lebens durch Zellteilung verschwinden. Ungefähr 40 Prozent der über 70-jährigen Männer haben kein "Y" mehr. Wenn eine Frau mit "Y" laut "X" ein Mann ist, was ist dann dort ein älterer Herr ohne "Y"?
Rowlings Gesinnungsgenossinnen behaupten nun, ein simpler Test reiche, um sämtliche Geschlechterfragen zu klären. Klingt erst mal gut. Der Blick in die Geschichte des Frauensports zeigt jedoch: So einfach ist die Sache nicht. Die 1961 geborene spanische Hürdenläuferin Maria José Martínez-Patiño etwa hatte bereits zahlreiche Wettbewerbe gewonnen, als ihr im Alter von 24 Jahren plötzlich mitgeteilt wurde, sie sei ein Mann. Zwei Jahre vorher hatte ein anderer der damals noch obligatorischen Tests das Gegenteil ausgesagt.
Einige Jahre später wiederum wurde das Urteil revidiert, Martínez-Patiño galt erneut als Frau. Viele solcher Beispiele lassen sich finden, aus verschiedenen Jahrzehnten. Unter anderem deswegen verzichtet das IOC seit 1999 auf Geschlechtstest. Die Natur hält nun einmal mehr Varianten bereit, als es ein auf Eindeutigkeit und Optik fixiertes Verständnis von "Frau" und "Mann" gern hätte. Im Fall von Imane Kehlif kommt aber möglicherweise noch etwas hinzu.
"Wäre Imane eine stämmige Finnin und hätte sie keine kurzen schwarzen, sondern lange blonde Haare auf dem Kopf – ich bin mir leider sicher, dass wir dann nicht so viel Geschrei hören würden." Die Frau, die das sagt, heißt Halima und stellt sich als "muslimische Lesbe und Fußballerin" vor. "Aber klar, wir Araber tricksen halt gern, weiß ja jeder", sagt sie dann grinsend. "Doch mal ehrlich: Falls da unten im Boxring ein Haufen Brüder einen Typen in den Frauensport schummeln wollte, dann hätten sie den ja wohl mehr aufgehübscht. Imane trägt nicht mal Lippenstift. Bloß manchmal Ohrringe."
In der algerisch-französischen Community ist die angefeindete Boxerin in der vergangenen Woche zu einer Heldin aufgestiegen. Und zu einer Identifikationsfigur. Fast jeder kennt inzwischen ihre Geschichte, wie sie sie beispielsweise im Fernsehsender "Canal Algérie" erzählt hat.
Imane Khelif ist in Biban Mesbah aufgewachsen, einem Dorf in der nordalgerischen Provinz Tiaret. Sie habe es immer geliebt, Fußball zu spielen, so Khelif. Wenn die Jungs sie deswegen einschüchtern wollten, wehrte sie sich, schnell und unverzagt. Ein Lehrer habe sie schließlich dazu ermutigt, mit dem Boxen anzufangen. Wie schwierig das gewesen sein muss, wird in einem Satz deutlich: "Ich komme aus einer konservativen Familie in einer konservativen Region", erzählte Imane Khelif der Fernsehreporterin beinahe schüchtern. "Boxen galt dort als Sport, der Männern vorbehalten ist." Das Geld für die Fahrten zum Training in der Stadt verdiente sie sich mit Recycling und dem Verkauf von selbst gebackenem Brot. Nach drei Jahren Ausbildung trat sie im Alter von 19 Jahren erstmals 2018 bei der Weltmeisterschaft an. Sie hat sich durchgeboxt, hinein in eine Karriere, die alles andere als vorgezeichnet schien.
Inzwischen genießt Imane Khelif nicht nur die Anerkennung ihres Vaters. Algerische Politiker, hochrangige Sportfunktionäre und Feministinnen unterstützen die Sportlerin in seltener Eintracht. Für die einen ist sie der Stolz der Nation. Für die anderen eine Kämpferin, die Weiblichkeit von traditionellen Rollenvorstellungen befreit. Und Frauenboxen ist plötzlich in aller Munde.
Gegen 22.40 Uhr treten an diesem Wettkampfabend die Sportlerinnen in den Ring. "Imane! Imane!", schallt es von den Rängen. Die Thailänderin Janjaem Suwannapheng will Khelifs Schlagkraft mit Schnelligkeit ausmerzen, aber die Algerierin ist treffsicher und acht Zentimeter größer. Von der ersten Sekunde an dominiert sie den Kampf, ihre Gegnerin kann sie mühelos auf Distanz halten. Am Ende gewinnt sie überzeugend mit Fünf zu Null nach Punkten. Finale.
Auf den Straßen rings um das Stadion feiern ihre Fans nach dem Sieg noch lange weiter. Frauen, Mädchen – und ja, auch Männer, von denen nicht alle so auftreten, als gehörten sie schon lange zu den Vorkämpfern des Feminismus. Aber das kann ja noch werden. Am kommenden Freitag kämpft Imane Khelif um die Goldmedaille.