Die Gesundheit von Joe Biden wird öffentlich diskutiert. In Deutschland sind Krankheiten von Politikern Privatsache. Manche wollen keine Schwäche zeigen.
Bei Olaf Scholz klänge es vielleicht so: Der Kanzler erscheint für sein Alter von 66 Jahren überdurchschnittlich fit. Er ist von robuster Gesundheit, sehr selten krank. Wenn er nicht gerade eine Augenbinde tragen muss, treibt er regelmäßig Sport, gelegentlich würde es ihm guttun, früher schlafen zu gehen. Scholz ist ohne körperliche und geistige Einschränkungen in der Lage, sein Amt auszuüben.
So ein medizinisches Attest ist in Deutschland eine Fiktion. Der Kanzler ist keine Rechenschaft über seinen Gesundheitszustand schuldig. Für den US-Präsidenten gilt dasselbe, doch hat es sich zur Tradition entwickelt, dass der Mann im Weißen Haus regelmäßig seinen Leibarzt konsultiert und das Ergebnis veröffentlicht wird. Joe Bidens letzter Rundumcheck datiert offiziell von Ende Februar. Damals hieß es, trotz einiger kleinerer Gebrechen sei der Präsident uneingeschränkt amtstauglich. Wie man weiß, stieß dieser Befund über die Monate auf immer mehr Skepsis und Widerspruch.
Biden: vom TV-Debakel bis zum Rückzug 14:55
In der deutschen Politik ist Gesundheit Privatsache. Als Angela Merkel in der Mitte ihrer letzten Amtszeit wiederholt von Zitteranfällen heimgesucht wurde, tat sie die Frage nach den Ursachen zunächst damit ab, sie habe zu wenig getrunken. Beim zweiten Mal sagte sie, es sei gerade die Angst vor der Wiederholung eines Anfalls gewesen, die den zweiten Anfall verursacht habe. Die Frage der Amtsfähigkeit überließ die Kanzlerin ausschließlich ihrer eigenen Einschätzung: Man dürfe davon ausgehen, dass sie um die Verantwortung ihres Amtes wisse "und deshalb auch dementsprechend handele – auch, was meine Gesundheit anbelangt". Sollte heißen: Wenn ich nicht mehr kann, sag ich es euch schon.
Wer damals gesehen hat, wie Merkel ihre Zitteranfälle vor laufenden Kameras mit eiserner Disziplin durchstand, dem war klar, dass die Kanzlerin nicht einen Moment der Schwäche zeigen wollte. Es war in diesen Sekunden, als sie ihre Überlegungen aus der Zeit vor der erneuten Kanzlerkandidatur 2017 eingeholt haben dürften: Damals hatte sie nicht aus Sorge vor einer Niederlage oder wegen der Strapazen bis zum Wahltag gezögert, sondern im Bewusstsein der Belastung in den vier Jahren danach.
Schwäche zeigen ist meist ein politisches Tabu. Helmut Kohl verschwieg vor dem Bremer CDU-Parteitag 1989, auf dem er mit einem parteiinternen Putschversuch rechnen musste, eine schwere Prostata-Krankheit, weil er fürchtete, es werde ihm als Ausrede interpretiert, wenn er deswegen weggeblieben wäre. Heide Simonis begab sich 2002 heimlich für eine Krebsoperation ins Krankenhaus. Nur zwei Tage danach versteckte sie die Tropfflasche unter einer weißen Stola und ging zu einer öffentlichen Ehrung. Verteidigungsminister Peter Struck behielt 2004 sogar vor seinem Kanzler Gerhard Schröder zunächst für sich, dass er einen Schlaganfall erlitten hatte.
Solche Geheimnistuerei sagt viel über den politischen Betrieb, die subjektive Wahrnehmung erbarmungsloser Konkurrenz und die persönliche Angst vor dem Bedeutungsverlust aus – mit der Reaktion der Öffentlichkeit hat sie wenig zu tun. Als Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig ihren Brustkrebs öffentlich machte, fand sie Respekt für ihre Offenheit und Verständnis für die Priorisierung der Behandlung vor den politischen Geschäften. Und als ihre rheinland-pfälzische Kollegin Malu Dreyer jüngst ihren Rücktritt damit begründete, dass ihr die Kraft fehle, erntete sie Respekt. Mit ihrer Einsicht in die eigene Schwäche und der Konsequenz, die sie daraus zog, demonstrierte Dreyer vor allem eines: Stärke.
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