Nach dem spektakulären Verzicht von US-Präsident Joe Biden auf eine erneute Kandidatur bereiten sich die Demokraten dreieinhalb Monate vor der US-Präsidentschaftswahl auf ein Nominierungsverfahren im Eiltempo vor. Der Parteivorsitzende der Demokraten, Jaime Harrison, kündigte einen "transparenten und geordneten Prozess" für die Nominierung an. Einen knappen Monat vor dem Parteitag in Chicago gilt Vizepräsidentin Kamala Harris nun als Favoritin.
Biden selbst hatte Harris am Sonntag kurz nach Bekanntgabe seines Verzichts seine "volle Unterstützung" dafür ausgesprochen, bei der Wahl im November gegen den Republikaner Donald Trump anzutreten. Zudem kündigte der 81-Jährige an, im Lauf der kommenden Woche ausführlicher über seine Entscheidung zu informieren.
Die 59-jährige Vizepräsidentin Harris hatte bereits nach dem desaströsen Auftritt Bidens beim ersten TV-Duell gegen Trump in der Debatte um einen möglichen Rückzug Bidens als naheliegende Alternative gegolten. Am Sonntag erklärte Harris, sie wolle die Nominierung "verdienen und gewinnen".
In den Umfragen kam die einstige Senatorin bislang jedoch nur auf niedrige Zustimmungswerte. Insbesondere zu Beginn ihrer 2021 begonnenen Amtszeit als Vizepräsidentin hatte Harris Schwierigkeiten, an Profil zu gewinnen. Im Wahlkampf hatte sie indes bereits an Bidens Seite mit Auftritten zu zentralen Themen wie dem Abtreibungsrecht gepunktet.
Hinter Harris stellten sich bereits einflussreiche Persönlichkeiten der Partei, darunter die ehemalige Außenministerin und Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton und ihr Mann, Ex-Präsident Bill Clinton. Auch rund ein Drittel der demokratischen Senatoren, die bekannte Parteilinke Alexandria Ocasio-Cortez, Verkehrsminister Pete Buttigieg und mehrere Gouverneure sprachen sich für Harris aus - darunter die Regierungschefs von Kalifornien und Pennsylvania, Gavin Newsom und Josh Shapiro, die selbst als Biden-Alternativen gehandelt worden waren.
Auch finanziell machte sich die Unterstützung für die Vizepräsidentin bemerkbar: Die für das Sammeln von Wahlkampfspenden zuständige Gruppe Actblue meldete, dass Harris nach Ankündigung ihrer Bewerbung bis zum Sonntagabend (Ortszeit) 46,7 Millionen Dollar (rund 43 Millionen Euro) an Kleinspenden erhalten habe - der "größte Spendentag" im diesjährigen Wahlkampf.
Andererseits sprachen sich mehrere Schwergewichte der Demokraten zumindest vorerst nicht für eine Kandidatur von Harris aus - unter anderem Ex-Präsident Barack Obama und die ehemalige Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi.
Offen blieb derweil, wie die Nominierung des neuen demokratischen Präsidentschaftskandidaten genau ablaufen soll. Ernannt wird der Kandidat von den Delegierten des demokratischen Parteitags, der vom 19. bis 22. August in Chicago stattfindet. Grundlage für ihr Votum sind eigentlich die Ergebnisse der Vorwahlen in den US-Bundesstaaten - die Biden haushoch gewonnen hatte. Die Delegierten stehen nun vor der Frage, für wen sie sich alternativ entscheiden sollen.
Möglicherweise findet die Abstimmung über den Kandidaten nun schon vor dem Parteitag in digitaler Form statt. Die Demokraten könnten so eine einmonatige Debatte bis zum Parteitag vermeiden und zudem ein mögliches rechtliches Problem im wichtigen Bundesstaat Ohio vermeiden: Dort könnte eine Frist bis zum 7. August für die Benennung der Präsidentschaftskandidaten gelten, die Gesetzeslage dazu ist aber nicht ganz klar.
Wie realistisch angesichts dieses äußerst knappen Zeitplans die Chancen möglicher Herausforderer Harris' sind, ist ebenfalls fraglich. Der US-Fernsehsender CBS berichtete, möglichen Delegierten des demokratischen Parteitags sei mitgeteilt worden, sich bereits Anfang August auf eine Kandidatur der Vizepräsidentin festzulegen.
Die Präsidentschaftswahl im November könnte durch Bidens Kehrtwende jedenfalls eine völlig neue Dynamik bekommen: Statt der bei den US-Bürgern unbeliebte Wiederauflage des Duells zwischen Trump und Biden von 2020 erscheint einer der fesselndsten Präsidentschaftswahlkämpfe der jüngeren US-Geschichte möglich.
Der republikanische Ex-Präsident Trump hatte am 13. Juli ein Attentat knapp überlebt und wurde kurz darauf beim Parteitag der Republikaner offiziell zum Präsidentschaftskandidaten gekürt. Nun ist er gezwungen, seinen auf Biden fokussierten Wahlkampf neu auszurichten. Zudem wird der 78-Jährige nach Bidens Ausstieg nun wohl der älteste nominierte Präsidentschaftskandidat der US-Geschichte sein.
Angesichts des Wechsels bei den Demokraten forderte Trump bereits in seinem Online-Netzwerk Truth Social, die zweite Debatte der Präsidentschaftskandidaten in dem ihm nahestehenden rechten Sender Fox News stattfinden zu lassen - statt wie bislang geplant auf ABC News. Der an Trumps Seite nominierte Vizepräsidentschaftskandiat J.D. Vance betonte, Biden sei der "schlechteste Präsident" gewesen, den er je erlebt habe - und Kamala Harris habe Biden "Schritt für Schritt begleitet".
Aus Deutschland erntete Biden am Montag unterdessen weitere Respektsbekundungen für seinen Rückzug. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte, der US-Präsident stelle damit "die Interessen seines Landes über seine eigenen". Der Transatlantik-Koordinator der Bundesregierung, Michael Link (FDP), sprach im "Tagesspiegel" von einer "tiefen Zäsur" und sagte, "wahrscheinlich noch nie" habe ein US-Präsident "die EU-Institutionen und den 'alten' Kontinent insgesamt so ernst genommen".
In Russland reagierte unterdessen Kreml-Sprecher Dmitri Peskow äußerst kühl auf eine mögliche Präsidentschaftskandidatur Kamala Harris'. Bislang sei ihr Beitrag zu den Beziehungen zwischen Washington und Moskau "nicht besonders auffällig" gewesen, sagte Peskow vor Journalisten. Sie habe jedoch "Erklärungen mit einer eher unfreundlichen Rhetorik gegenüber unserem Land abgegeben".