Von Tom J. Wellbrock
Deutschlands erster Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) stand dem Nationalsozialismus näher als der Demokratie. Franz-Julius Halder, ehemaliger Generalstabschef unter Adolf Hitler, der angeblich schon vor Hitler selbst Zerstörungsfantasien der UdSSR im Sinn gehabt haben soll, hat nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, seine eigene Verantwortung auf Hitler abzuwälzen, so als sei der Nationalsozialismus allein dessen Werk und alle anderen – inklusive Halder selbst – seien unschuldig. Gemeinsam mit Reinhard Gehlen (inzwischen Chef des Bundesnachrichtendienstes unter Adenauer) und Halders Chef der Operationsabteilung unter Hitler, Adolf Heusinger, streifte er die Schuld von sich ab. Adenauer machte mit, denn Heusinger war inzwischen der Generalinspekteur der Bundeswehr.
"Kleine Brötchen backen" wollte Adenauer nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg ganz offensichtlich nicht. Und so wurde unter ihm die sogenannte "Hallstein-Doktrin" ins Leben gerufen, benannt nach Walter Hallstein (CDU). Die "Hallstein-Doktrin" hatte von 1955 bis 1973 Bestand.
Es kann nur ein wahres Deutschland geben – so in etwa stellte sich Adenauer die Rolle Westdeutschlands vor. Mit anderen Worten: Die DDR , ebenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, hatte in seinen Augen keinerlei Existenzberechtigung. Nach der "Hallstein-Doktrin" galt auch für das Ausland, dass es sich an diese Vorgabe halten musste. Im Falle von diplomatischen Beziehungen zwischen der DDR und einem Drittstaat betrachtete Adenauer diese Praxis als "unfreundlichen Akt". Konkrete Sanktionen wurden zwar nicht ausformuliert, doch die "Hallstein-Doktrin" führte auch so zu immer wieder internationalen Konflikten und Streitigkeiten.
Man erinnert sich daran, dass nach dem Beginn der Doktrin die DDR nur in Anführungszeichen geschrieben wurde, genannt wurde sie abfällig "Gebilde" oder "Regime in Pankow". Im Deutschlandfunk fand sich 2005 dazu ein Artikel, in dem ein Historiker zu Wort kam und erklärte, dass die "Hallstein-Doktrin" im Prinzip schon in Ordnung war:
"Aus heutiger Sicht erscheine die Hallstein-Doktrin vielleicht überheblich, meint der Potsdamer Historiker Christoph Kleßmann. Damals sei es aus Bonner Sicht jedoch verständlich gewesen, die DDR zu isolieren, 'weil man sich natürlich klar machen muss, dass in den 50er Jahren auch die Akzeptanz der DDR bei der Bevölkerung noch minimal war. Insofern hatte der Alleinvertretungsanspruch Bonns auch in der DDR-Bevölkerung durchaus beträchtliche Popularität. Schließlich war die DDR ein Staat ohne demokratische und ohne nationale Legitimation. Und die Bundesrepublik hatte durchaus das Recht, diesen nationalen Alleinvertretungsanspruch zu formulieren."
Unweigerlich taucht die Frage nach dem Huhn und dem Ei vor dem geistigen Auge auf. Oder, anders ausgedrückt: Folgte die "Hallstein-Doktrin" dem Wunsch des Volkes oder der politischen Überzeugung Adenauers? Wie dem auch sei, heute ist Deutschland erneut überzeugt, einen Alleinvertretungsanspruch zu haben, nur in diesem Fall halt weltweit und mit seiner "regelbasierten Ordnung". Dazu weiter unten mehr.
Wenn es nach Adenauer gegangen wäre, hätte die "Hallstein-Doktrin" auch für die Sowjetunion gegolten, doch er traf mit der sowjetischen Führung eine Vereinbarung: Und so wurden alle deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR freigelassen, im Gegenzug baute Westdeutschland diplomatische Beziehungen zu Moskau auf.
Wenngleich mit der "Hallstein-Doktrin" keine konkreten Sanktionen schriftlich fixiert worden waren, war sie doch nicht folgenlos. Im Oktober 1957 erkannte Jugoslawien die DDR an und nahm diplomatische Beziehungen auf. Westdeutschland reagierte mit einem Abbruch der Beziehungen zu Jugoslawien. Aus der jugoslawischen Botschaft in Bonn hieß es damals:
"Die Regierung und die Völker Jugoslawiens verurteilen diesen Schritt der Bundesregierung, der durch keinen Grund gerechtfertigt ist, und erheben ihren schärfsten Protest dagegen."
Adenauer betete erneut seine Begründung für den Abbruch herunter und sprach von einem "Lebensinteresse" der Bundesrepublik,
"nämlich der auch im Grundgesetz verankerte Anspruch, dass die deutsche Bundesregierung allein legitimiert ist, die deutschen Interessen im Ausland zu vertreten, da nur sie eine demokratisch gewählte Volksvertretung und Regierung besitzt."
Der deutsche Größenwahn, der nach dem Zweiten Weltkrieg in neuer, demokratisch angemalter Lesart fast übergangslos fortgesetzt wurde, endete erst 1973, als der Präsident der UNO-Vollversammlung, Leopold Benites, die Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen verkündete.
Willy Brandt (SPD) kam der "Hallstein-Doktrin" schon 1969 in die Quere, weil er sich für eine Entspannungspolitik mit der Sowjetunion einsetzte. Gemeinsam mit Egon Bahr hatte Brandt bereits seit 1963 unter dem Motto "Wandel durch Annäherung" an seiner politischen Linie gearbeitet. In seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 sagte Brandt:
"Das deutsche Volk braucht den Frieden im vollen Sinne dieses Wortes auch mit den Völkern der Sowjetunion und allen Völkern des europäischen Ostens. Zu einem ehrlichen Versuch der Verständigung sind wir bereit, damit die Folgen des Unheils überwunden werden können, das eine verbrecherische Clique über Europa gebracht hat."
Rückblickend sollte man nicht verklärend werden. Brandts Entspannungspolitik war harte Arbeit, mit unzähligen Gesprächen und teils zähen Verhandlungen. Und sicher war es auch der Persönlichkeit Brandts zu verdanken, dass das Verhältnis zwischen Deutschland und dem Osten nach und nach besser wurde. Während Adenauers Regierungsstil arrogant und herablassend war, kam es zu Brandts Regierungszeit zum berühmten Kniefall in Warschau, den der "Spiegel", damals noch ein Nachrichtenmagazin, so kommentierte:
"Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien - weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland."
International erhielt Willy Brandt viel Anerkennung, das Magazin "Time" rief ihn im Jahr 1970 zum "Mann des Jahres" aus, 1971 erhielt er den Friedensnobelpreis. In seiner Dankesrede in Oslo sagte Brandt, was es ihm bedeute
"nach den unauslöschlichen Schrecken der Vergangenheit den Namen meines Landes und den Willen zum Frieden in Übereinstimmung gebracht zu sehen."
Die folgenden Ostverträge wurden in West-Deutschland insbesondere von der CDU, aber auch von Teilen der FDP hart kritisiert. Sie zu verhindern, gelingt den beiden Parteien aber nicht. Und auch in der Bevölkerung hat Brandt großen Rückhalt. Der Wahlkampf im Jahr 1972, der unter dem Motto "Willy wählen" stand, endete mit einem Ergebnis von 45,8 Prozent der Stimmen für die SPD, die Wahlbeteiligung lag bei enormen 91 Prozent. Brandt selbst schrieb später in seinen Erinnerungen:
"Der Kampf um die Verträge hatte die Wahl entschieden."
Während Adenauer einen Alleinvertretungsanspruch gegenüber der DDR erhob, wird dieser heute gegenüber der restlichen Welt (ausgenommen den USA) formuliert. Heute geht es um "regelbasierte Werte", die nie ein Mensch in Worte gekleidet hat. Sie sind austauschbar, vage und werden je nach Gemengelage willkürlich angepasst. Und sie sind das Gegenteil von Diplomatie.
Von Egon Bahr stammen folgende Worte:
"In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt."
Bahr hat die Entspannungspolitik bis zu seinem Tod im Jahr 2015 verteidigt. Dem entgegnete im März 2022 SPD-Chef Lars Klingbeil:
"'Wandel durch Handel' war das Gebot der Stunde. Dieses Konzept ist gescheitert"
und fasste damit das Ende der deutschen Diplomatie zusammen. Er begründete seine Haltung mit den Worten:
"Rückblickend müssen wir uns natürlich fragen, ob wir den russischen Einmarsch in Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014 oder die russischen Auftragsmorde in London und Berlin anders hätten bewerten müssen"
Er tritt damit nicht nur Bahrs Erkenntnis mit Füßen, dass es in der internationalen Politik um Interessen geht. Denn er nimmt eine moralische Bewertung internationaler Politik vor, die nichts mit Diplomatie zu tun hat. Er stellt zudem Behauptungen auf, die zwischen Unterstellung und Lüge liegen. Zum einen hat Georgien 2008 Russland angegriffen, nicht umgekehrt. Zum anderen ist die völkerrechtliche (und damit auch diplomatische) Bewertung der Krim längst nicht so eindeutig, wie Klingbeil dem Zuhörer Glauben machen will. Und zum dritten sind die angeblichen Auftragsmorde in Berlin und London eine nie bewiesene Räuberpistole.
Diplomatie heißt in Deutschland also heute, den Alleinvertretungsanspruch von Ereignissen zu behaupten, die aus zahllosen Perspektiven bewertet werden können und müssen, um ein vollständiges Bild zu erzeugen. Doch Diplomatie funktioniert anders. Sie orientiert sich an den Voraussetzungen, die sie vorfindet und sucht nach Lösungsansätzen für Problemstellungen. Diplomatie kann daher auch niemals dem Grundsatz folgen, lediglich Gesprächspartner zu akzeptieren, die den eigenen Erwartungen oder Werten entsprechen.
Das ist der größte Denkfehler, den die intellektuell überforderte und diplomatisch minderbemittelte deutsche Politik macht: Sie formt ein neues Bild der Diplomatie, das mit den tatsächlichen Ansprüchen an internationale Problemlösungen nichts mehr zu tun hat. Sie konterkariert also die Errungenschaften der Diplomatie, die diese im Laufe der Zivilisation entwickelt hat. Diplomatisches Verhalten ist also Verhalten,
das den Agierenden dabei Kompromissbereitschaft und den Willen bescheinigt, die Absichten und die Wünsche jedes Beteiligten zu erkennen
das sogenannte Win-win-Situationen sucht;
das es möglichst vermeidet, andere Verhandelnde bloßzustellen oder in die Enge zu treiben;
das geeignet ist, den langfristigen Nutzen zu maximieren (es wäre also undiplomatisch, sich einen kurzfristigen Nutzen zu sichern, dabei aber langfristig Nachteile oder Konflikte zu riskieren bzw. in Kauf zu nehmen).
Man muss zumindest diese vier Grundzüge verstehen, um erfolgreiche Diplomatie betreiben zu können. Doch in der deutschen Außenpolitik wird keiner dieser Merkmale in Augenschein genommen, geschweige denn in die geopolitischen Entscheidungen einbezogen.
Entgegen der in Deutschland immer wieder gehörten Aussage, Russland habe sich international isoliert, ist es faktisch Deutschland, das sich selbst auf internationaler und diplomatischer Bühne ausgegrenzt hat. Annalena Baerbock (Bündnis 90/die Grünen) ist in kaum noch einem Land mit internationaler Bedeutung gern gesehen, und das liegt nicht nur an ihren schlechten Manieren, sondern auch und vor allem daran, dass gestandene Diplomaten mit ihr nichts anfangen können. Es ist, als würde ein Schachgroßmeister von einem Amateur des Dame-Spiels herausgefordert werden. Beide befinden sich in unterschiedlichen Welten, und niemandem wäre geholfen, würden sie sich auf das gemeinsame Spiel einlassen.
Das Grundproblem deutscher Diplomatie liegt in der Tatsache, dass die nachgewachsenen und die nachwachsenden Generationen von Politikern weder die Fähigkeit noch den Willen mitbringen, diplomatische Grundlagen zu erlernen. Durch ihre mangelnde Eigenständigkeit und die Abhängigkeit US-amerikanischer Entscheidungsträger einerseits und die eingeschränkten Fähigkeiten, sich diplomatische Fertigkeiten anzueignen andererseits, ist Deutschland auf Jahrzehnte von der internationalen Diplomatie abgeschnitten. Das wird sich auch in anderen Bereichen der Geopolitik und der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit bemerkbar machen.
Die Bedeutung Deutschlands in der Welt ist also in einer stetigen Abwärtsbewegung. Das Land wird auf internationaler Bühne "regelbasiert" von Tag zu Tag unwichtiger und sich bei Besuchen in anderen Ländern darauf einstellen müssen, durch den Lieferanteneingang geleitet zu werden.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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