Kaum jemand manipuliert die Kameras so wirkungsvoll wie Donald Trump. Aus seinem Repertoire sticht eine Angewohnheit heraus. Sie könnte ihn tatsächlich ins Weiße Haus tragen. Schüsse fallen, Blut fließt, der Mann auf dem Podium wird von Sicherheitsbeamten weggebracht. In dem Moment hebt er die Faust, ruft der Menge zu: "Kämpft!" ("Fight!"). Was wie eine Szene aus einem Hollywood-Blockbuster klingt, ist ein Moment, der wohl in die Geschichte eingehen wird. Kein Wunder, dass sich Tage später die ersten Trump-Fans ebendiese Geste unter die Haut ritzen lassen, mit schwarzer Tinte, mehr oder weniger gut getroffen. Aber was hübsch ist, liegt ja im Auge des Betrachters. Da ist sie jedenfalls: Trumps Faust. 75 Sekunden, nachdem der Attentäter auf ihn geschossen hatte, und bevor ihn die Secret-Service-Beamten wegzerren, reagiert Donald Trump mit dieser Geste. Der emporgereckten Faust, Trumps Standardgeste seit Jahren. Er zeigt sie bei vielen Auftritten – und seit seiner gescheiterten Wiederwahl im Jahr 2020 immer häufiger. An diesem Tag in Butler, Pennsylvania , hat er sie endgültig zum Denkmal erhoben – auch Dank des des Pulitzer Preisträgers Evan Vucci und dessen Bild vom Attentat, das auf einem schmalen Grat von Fiktion und Wirklichkeit balanciert: Das Blut an Trumps Gesicht, die US-Flagge, die majestätisch den strahlend blauen Himmel füllt, und die emporgereckte Faust des Präsidentschaftskandidaten; das alles wirkt beinahe inszeniert, wie gestellt. Vuccis kaum begreifbare Aufnahme ist die ultimative Ästhetisierung des Attentats auf Donald J. Trump. Und zugleich seine Kanonisierung als politischer Märtyrer. Fast könnte man meinen, der 78-jährige Republikaner hätte sich auf diesen Moment vorbereiten können, hätte das alles in einem Akt sinistrer Wahlkampf-Inszenierung geplant. Natürlich war es nicht so. Vorbereiten konnte Trump sich dennoch. Denn die Geschichte der politischen Fotografie ist reich an Protestbildern. Und Trump ist ein Mann der Bilder. Er weiß genau, wie man sich inszeniert, wo die Objektive sind und in welchem Licht der gepuderte Teint noch etwas lebendiger erscheint. Gewinnt Trump wegen dieses Fotos? In diesem entscheidenden Moment, kurz nachdem die Kugeln aus dem halbautomatischen Gewehr des Schützen an ihm vorbeigeflogen sind und ihm ein Ohr aufgerissen haben, als er haarscharf mit dem Leben davon gekommen ist, macht er diese Geste. Eine Instinkt-Geste, von der Gotthold Ephraim Lessing gesagt hätte, sie sei der "fruchtbare Augenblick": Das Drama eingefangen auf seinem Höhepunkt, aber noch nicht entschieden. Das Schicksal des Protagonisten bleibt ambivalent. Es kann in die eine wie die andere Richtung gehen. In welche Richtung es nach dieser ikonischen Aufnahme vom Attentat auf Trump nun mit dem US-Präsidenten gehen wird, scheint nach Ansicht von Kommentatoren klar: Trump wird die Wahl im November gewinnen. Auch wegen dieses Fotos. Tatsächlich können Bilder nicht nur Geschichte schreiben. Sie können sie auch verändern. Das Bild des Attentats auf John F. Kennedy im Dezember 1963 ging um die Welt. Wie der Präsident, tödlich getroffen von einem Projektil, im Fond des offenen Lincoln zusammensackt und die First Lady im pastellfarbenen Kleid panisch auf den Kofferraum klettert, während ein Sicherheitsagent die Hand nach ihr streckt. Ironie der Geschichte, dass er ausgerechnet diese Geste nutzt Das Bild versetzte die USA in Schockstarre. Danach war das Land ein anderes. Es driftete auseinander. Die Schüsse von Dallas machten die Vereinigten Staaten immer mehr zu jenen Unvereinigten Staaten, als die sich das Land heute präsentiert. "Die amerikanische Rechte mit Donald Trump als prägender Figur ist ein direktes Ergebnis dieses dunklen Kapitels der amerikanischen Geschichte", schreibt etwa der Historiker Lloyd Cox. Kennedys Ermordung vertiefte den Graben zwischen Demokraten und Republikanern. Von dieser Spaltung profitiert Trump heute immens. Indem er sich zum Vorkämpfer einer weißen America-First-Strategie stilisiert. Die in den Himmel gereckte Faust ist das Fanal dieses Kulturkampfes. Dabei war sie einst das Symbol linker Klassenkämpfer, Sozialisten, schwarzer Bürgerrechtler wie Martin Luther King oder jüngst auch der Black-Lives-Matter-Bewegung. Kurzum, all jener, gegen die Trump üblicherweise wettert. Unvergessen, wie Tommie Smith und John Carlo auf dem Siegerpodest bei den Olympischen Spielen in Mexiko City 1968 die Faust emporhoben. Die beiden afroamerikanischen Läufer hatten an jenem Tag Gold und Bronze gewonnen. Die Medaillenzeremonie wurde zum Sinnbild des Protests für mehr Rechte von ethnischen Minderheiten in den USA und weltweit. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass nun ausgerechnet Trump diese Geste für seine politische Kampagne nutzt. Jener Ex-Präsident, der seit Jahren in seinen Reden gegen Minderheiten hetzt, Migranten dämonisiert und von einem "Blutbad" fabuliert, sollte er nicht wiedergewählt werden. Ein zynischer Akt kultureller Aneignung, wenn man so will. Hauptsache, man bleibt im Gespräch Der 78-jährige Präsidentschaftskandidat beherrscht das Spiel mit den Posen und Bildern wie kaum ein Zweiter. Trump, der sein geerbtes Geld in Protz-Bauten in New Yorks nobler Upper East Side investierte und später mit luxuriösen Golfplätzen und Casinohotels vermehrte, wäre wohl nur ein gewiefter Immobilienmakler geblieben, hätte er nicht das Fernsehen entdeckt. Oder das Fernsehen ihn. Als Sprungbrett für eine Karriere als TV-Star nutzte er es, später als Verstärker für seine Auftritte als Politiker. Trump ist ein Meister der Selbstinszenierung, sei es als Mäzen großer Boxkämpfe oder als großspuriger Juror in der TV-Show "The Apprentice", wo er über das Schicksal Rendite-affiner Jung-Unternehmer entschied. Dass er nach mehr als einem Jahrzehnt von der Produktionsfirma gefeuert wurde, weil er sich rassistisch über mexikanische Einwanderer geäußert hatte, tat seiner Beliebtheit beim Publikum keinen Abbruch. Trump weiß nur zu genau, dass jede Sekunde im Scheinwerferlicht eine gewonnene Sekunde ist. Hauptsache, man bleibt im Gespräch. Und so mauserte er sich im Laufe der vergangenen Jahre vom präpotenten Immobilien-Mogul – dessen Erfolg ohne das beachtliche Vermögen seines Vaters Fred und unzählige Steuertricks nicht denkbar wäre – zum großen Bild-Schamanen. Die Protest-Faust ist nur der letzte Ausdruck dieser Verwandlung. Inzwischen wird fast alles, was Trump an Auftritten und Bildern produziert, umgehend Kult. Seien es die scheinbar staksigen Gesten, die geschürzten Lippen und die zu Schießscharten zusammengekniffenen Augen, wenn er am Redepult seine Gegner ins Visier nimmt. Sei es der mugshot , also das erkennungsdienstliche Porträtfoto auf dem Polizeirevier, das er kurzerhand auf Tassen und T-Shirts drucken ließ, um damit Spenden für seine Wahlkampagne zu sammeln. Oder eben die Faust. Erstaunliche Ähnlichkeit mit berühmtem Gemälde Bei Trump wird sie zur popkulturellen Dominanzgeste, zu einem zynischen Akt kultureller Aneignung, zweckentfremdet für seinen protofaschistischen Feldzug gegen die Demokraten, und überhaupt gegen alle, die nicht für ihn sind. Für Donald Trump. Er reckte die Faust nach seiner Verurteilung als Betrüger vor einem Gericht in Manhattan trotzig in die Höhe. Triumphierend auf den Parteitagen und Wahlkampfveranstaltungen, wie jüngst in Milwaukee. Oder eben geschockt, aber geistesgegenwärtig, wie in Butler, nach den fast tödlichen Schüssen. Trump mag nicht mit politischer Programmatik glänzen, sein Gespür für den Moment und jene Form von Bildersprache, die man ikonografisch nennt, und die sich ins kollektive Gedächtnis brennt, ist jedoch außergewöhnlich. Wie auf dem Foto des AP-Fotografen Evan Vucci. In der Geschichte der Medien hat wohl kaum jemals ein Bild so schnell den Sprung ins kollektive Gedächtnis geschafft wie jenes Foto vom vergangenen Samstag. Umgehend nach seiner Veröffentlichung wurde es bereits als historisch gefeiert. Vergleichbar mit den Aufnahmen vom Einsturz der Türme am 11. September 2001. Einige Betrachter verwiesen auf die erstaunliche Ähnlichkeit mit einem berühmten Gemälde der Revolutionsgeschichte. Eugène Delacroix' "Die Freiheit führt das Volk". Gekommen, um Rache zu nehmen Tatsächlich weisen Komposition und Motivik erstaunliche Parallelen auf. Hier die Freiheit, eine starke Frau, die mit der Tricolore in der Hand das Volk gegen die unterdrückerische Monarchie Karl X. anführt. Dort Trump, der seine Anhänger zum Kampf um das Weiße Haus und um die Vollendung seiner 2016 begonnenen kulturellen und politischen Revolution in den USA aufruft. Delacroix' romantisches Tableau durfte viele Jahrzehnte nicht ausgestellt werden. Zu gefährlich erschien es den Vertretern des ancien regimes , der alten und später auch der neuen Ordnung. Sie hatten offenbar Angst, das Bild mit seiner starken, aufrührerischen Gestik könne den Volkszorn entfachen und den Mob zum Umsturz anstacheln. Es ist nicht ganz abwegig anzunehmen, dass Vuccis Trump-Ikone denselben Effekt haben wird. Sein Bild lässt sich allerdings nicht mehr wegschließen. Es wird längst von Trump-Anhängern und wütenden Bürgern auf T-Shirts und Tassen gedruckt. Oder eben als Tätowierungen auf der Haut der Maga-Jünger verewigt. Vucci selbst spricht in einem Interview mit dem "Time"-Magazin davon, einen "Schlüsselmoment der amerikanischen Geschichte" fotografiert zu haben. Nicht auszuschließen, dass diese handwerklich makellose Aufnahme des Pulitzer-Preisträgers dazu beiträgt, dass Trump tatsächlich am 5. November ins Weiße Haus gewählt wird. Damit der alte und neue Hausherr seine Rache an der amerikanischen Demokratie, die ihn angeblich die Wiederwahl im Jahr 2020 gekostet hat, vollziehen kann. Trump selbst hat mehrfach damit kokettiert, sich dann an seinen Widersachern revanchieren zu wollen, für das Unrecht, das ihm angeblich widerfahren ist. Es klingt bedrohlich.