Die amerikanische Demokratie ist in extremer Gefahr – schon wieder. Wie bedrohlich eine zweite Amtszeit Donald Trumps werden könnte, erklärt Historiker Timothy Snyder. Bald müssen die Amerikaner ihr Staatsoberhaupt wählen. Es wird eine Stimmabgabe von höchster Bedeutung. Denn wenn Donald Trump zurück an die Macht gelangt, wird er Rache im Sinn haben. Diese Warnung spricht mit Timothy Snyder ein weltweit anerkannter und führender US-Historiker aus. Was droht im Falle einer zweiten Amtszeit Trumps? Wie ließe sich seine Rückkehr ins Weiße Haus verhindern? Und welche Lektionen aus der Geschichte sollten wir heute dringend befolgen? Diese Fragen hat Timothy Snyder t-online in Wien beantwortet, wo der Forscher Permanent Fellow des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen ist. t-online: Professor Snyder, auf Donald Trump wurde geschossen. Welche Folgen könnte dieser Anschlag für den Wahlkampf und die USA haben? Timothy Snyder: Das weiß niemand. Die Republikaner werden ihn benutzen, um die Demokraten schuldig zu sprechen. Aber selbstverständlich ist Donald Trump derjenige, der die Gewalt in den Mittelpunkt unseres politischen Lebens gerückt hat, durch Worte und Taten. Und der Möchtegern-Attentäter scheint ein rechtsextremer Waffennarr gewesen zu sein. Historisch gesehen ist Gewalt innerhalb der extremen Rechten völlig normal – man denke an Österreich oder Deutschland in den 1930er-Jahren. Ein Grund mehr für alle, die sich für Zivilisation und Demokratie einsetzen. Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass sich die Vereinigten Staaten künftig in eine Autokratie oder gar eine Diktatur verwandeln, sollte Trump erneut ihr Präsident werden? Die amerikanische Republik steht vor einer überaus ernsten Herausforderung, weil Trump keinerlei Respekt vor ihr hat. Wenn Trump gewinnt, wird er auf ausländische Diktatoren als seine engsten Berater hören, seine Unterstützer wollen den gesamten öffentlichen Dienst in den USA durch Loyalisten ersetzen – von denen viele christliche Nationalisten oder Christo-Faschisten sein werden. Was geschähe im schlimmsten Fall bei einem Wahlsieg Trumps? Wenn Trump gewinnt, werden wir eine Reihe von diktatorischen Maßnahmen, Unruhen und mit höchster Wahrscheinlichkeit auch Gewalt innerhalb der Vereinigten Staaten erleben. Einige der von Trump befürworteten politischen Maßnahmen, wie das Zusammentreiben von Millionen von Migranten und ihre Abschiebung, werden zudem vermutlich eine Opposition innerhalb der Regierung hervorrufen. Gewalt droht aber auch für den Fall, dass Trump verliert? Joe Biden könnte die Wahl mit 20 Millionen Stimmen Vorsprung gewinnen und Trump würde behaupten, dass er gewonnen habe. Genauso gut könnte die gesamte Wahlkreiskarte der Vereinigten Staaten am Tag nach der Wahl in Blau, der Farbe der Demokraten, eingefärbt sein: Trump würde den Sieg für sich beanspruchen. Egal, was passiert, Trump wird sagen, dass er gewonnen hat. In der politischen Berichterstattung ist keine Prognose zu 100 Prozent sicher, aber in dieser Hinsicht können wir davon ausgehen. Wenn Trump verliert, ist es wahrscheinlich, dass es um die Zeit der Wahl herum zu irgendwelchen Unruhen kommen könnte, bei denen Trump seine Anhänger auffordert, dieses oder jenes zu tun. Eine ziemlich düstere Aussicht … Die kommende Wahl in den USA ist eine Art Katalysator für den allgemeinen Zustand, in dem sich die Vereinigten Staaten befinden. Und diese gegenwärtige Situation ist unhaltbar. Wir werden nicht so weitermachen wie bisher. Die Dinge werden entweder viel besser oder viel schlimmer. Dazwischen gibt es nichts. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, wie nahe sich die USA an einer Autokratie oder Diktatur befinden: Im Prinzip geht es weniger darum, wie stark die Vereinigten Staaten in diese Richtung tendieren, sondern darum, dass sich eine radikale Möglichkeit dazu abzeichnet. Sind die amerikanischen Institutionen stark genug, um Trump und dessen Anhängern zu widerstehen? Der Supreme Court wird von ultrarechten Richtern dominiert. Deren letzte Entscheidung hat US-Präsidenten juristisch nahezu unangreifbar für Entscheidungen in deren Amtszeit gemacht . Zunächst ist es wichtig, dass der Kandidat der Demokraten – sei es Joe Biden, sei es möglicherweise auch jemand anders – mit möglichst großem Vorsprung gewinnt. Als Trump Ende 2016 die Wahl gewann, schrieb ich ein kleines Buch mit dem Titel "Über Tyrannei. 20 Lektionen für den Widerstand". Eine der Lektionen daraus lautet: "Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam". Was meine ich damit? Die Menschen sollten nicht bereits jetzt von einem Wahlsieg Trumps ausgehen und sich entsprechend verhalten. Denn genau das tun viele US-Medien bereits. Bitte erklären Sie das näher. Viele US-Medien berichten über Trump ganz anders, als er es verdient. Sie tun das aus Angst. Aufseiten der Demokraten gibt es ebenso Anlass, berechtigte kritische Fragen zu stellen, aber aus Furcht vor Trump fällt es den amerikanischen Medien viel leichter, sich auf Biden zu stürzen – und den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit in diese Richtung zu lenken. Das verzerrt Wahrnehmung und Diskussion und hat viel mit vorauseilendem Gehorsam zu tun. Das ist falsch, die Medien sollten sich ihrer eigenen Macht viel bewusster sein. Ebenso wie die anderen Institutionen der amerikanischen Demokratie? Dieser Fall ist etwas anders geartet. In einer anderen Lektion in "Über Tyrannei" geht es um den Aufruf, ebendiese Institutionen zu schützen. 2016 dachten zahlreiche Amerikaner, dass die Institutionen sie schützen werden, wenn etwas Schlimmes passiert. Aber Institutionen können die Menschen nicht schützen, wenn die Menschen die Institutionen nicht beschützen. Worauf will ich hinaus? Die Geschichte der autoritären Übergänge lehrt uns, dass alle Institutionen pervertiert werden können. Sie können allesamt von innen heraus verändert werden, sie können allesamt abgeschafft werden. Das ist sehr, sehr gefährlich. Ich glaube also nicht, dass die Institutionen uns retten werden. Der rechts dominierte Supreme Court sicher nicht. Davon geht in Amerika niemand aus. Im Supreme Court sitzt zu einem großen Teil ein Spektrum von Richtern, das von falscher Ideologie über Christo-Nationalismus bin hin zu absoluter Korruptheit beherrscht wird. Nein, dort findet sich keine Lösung. Es gilt nun, die Wahl zu gewinnen. Das eigentliche Problem der Spaltung der USA wird damit aber nicht gelöst? Nein. Bisweilen sagen Leute, dass die Wahlen bei der Bekämpfung des Faschismus nicht erstrangig sind. Aber das ist falsch, denn wenn ein Faschist durch Wahlen an die Macht kommt, verfügt er über eine Art Legitimität, die ihm dabei hilft, die Institutionen von innen heraus zu verändern. Es ist also sehr wichtig, dass Trump die Wahl verliert. Und dann? Wir müssen die spezifische Bedrohung für die amerikanische Demokratie analysieren und kommunizieren. Dazu sind drei Schritte notwendig, beim ersten haben uns die Republikaner bereits sehr geholfen. Sie spielen auf das sogenannte Project 2025 an, eine Art Blaupause für den Umbau der Vereinigten Staaten nach Trumps Vorstellungen im Falle eines Wahlsieges? Genau. Durch die Veröffentlichung ihres "Project 2025" haben die Republikaner uns auf rund 900 Seiten dargelegt, wie sie die amerikanischen Institutionen auflösen und in eine Art christo-faschistische Bürokratie umwandeln wollen. Nachdem das Ausmaß der Bedrohung erklärt und verstanden ist, muss der zweite Punkt erfolgen. Und zwar muss eine Definition erfolgen, wie eine bessere Zukunft der Vereinigten Staaten aussehen soll. Diese Wahl kann schließlich kaum von den Demokranten gewonnen werden mit der immer endlos wiederholten Botschaft, wie schlecht Trump ist. Da braucht es mehr. Worin besteht der dritte Punkt? Die Demokraten stecken jetzt mit Joe Biden ein wenig in der Klemme. Biden, da dürften sich die meisten Leute einig sein, war in vielerlei Hinsicht ein guter Präsident. Das bedeutet aber nicht, dass er nun auch ein ebenso guter Kandidat ist. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Es steht viel auf dem Spiel. Nach dem Urteil des Supreme Court bezüglich der nahezu vollumfänglichen Immunität für US-Präsidenten fühlte sich der Harvard-Jurist Laurence Tribe im "Spiegel" an das "Ermächtigungsgesetz" von 1933 erinnert, das Adolf Hitler seinerzeit gewaltige Macht verschafft hat. Was halten Sie von historischen Vergleichen? Was historische Vergleiche angeht, bin ich generell der Meinung, dass man umso mehr Muster erkennt, je mehr man über Geschichte weiß. In den USA unterliegen wir hingegen im Grunde einem Tabu: Sobald jemand etwas über Geschichte sagt, wird ihm vorgehalten, dass er Analogien betreibe. Dieses Tabu dient als Entschuldigung für Unwissenheit. Als Amerikaner stehen wir jeden Morgen auf und glauben, dass wieder ein neuer Tag, eine neue Welt angebrochen sei – und nichts zuvor geschehen ist. Es ist eine Art Tabula-rasa-Politik. Sie missbilligen das? Es ist hilfreich, historische Beispiele im Kopf zu haben. Und zwar, weil sich bisweilen Lehren daraus ziehen lassen, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten sollte. Mehrere Lektionen können wir etwa aus dem Jahr 1932 in Deutschland ziehen: Die Linke muss in der Mitte zusammenhalten. Das ist Nummer eins. Ferner müssen sich die Konservativen der Tatsache bewusst sein, dass sie konservativ sind und worin sie sich von den Faschisten unterscheiden. Damit haben wir Nummer zwei. Schließlich, drittens, sollte sich das Großkapital für die Bewahrung von Recht und Demokratie einsetzen anstelle für die Zertrümmerung der Gewerkschaften. Diese drei Lektionen aus 1932 sind auch heute noch relevant. Inwiefern lassen sich das Immunitätsurteil des Supreme Court heute und das "Ermächtigungsgesetz" von 1933 vergleichen? Es lassen sich Muster erkennen. Für Joe Biden spielt das Urteil des Supreme Court keine Rolle, er lässt sich nichts zuschulden kommen, und der Supreme Court weiß das auch. Aber Trump andererseits wird es so weit treiben, wie es nur geht. Die historische Analogie mit dem "Ermächtigungsgesetz" ist also insofern hilfreich, als wir darüber nachdenken müssen, wie jemand vom Reichskanzler zum "Führer" wird. Nochmals nachgefragt für den Fall, dass Trump es wieder ins Weiße Haus schafft. Womit müssen wir rechnen? 2016 glaubte Trump, dass er verlieren würde. Seine Kandidatur war im Grunde eine PR-Kampagne, eigentlich ohne Aussicht, tatsächlich Präsident zu werden. Er war dann selbst überrascht, gewonnen zu haben. Als er dann 2020 erneut antrat, machte Trump einfach so weiter. Aber dieses Mal ist es anders. Diesmal kandidiert Trump aus Rache. Es geht ihm nicht um Öffentlichkeitsarbeit. Es geht ihm ausschließlich um Vergeltung – und darum, nicht ins Gefängnis zu müssen. Um dieses Ziel zu erreichen, demontiert der Amerikas Demokratie? Das sind seine persönlichen Beweggründe. Wenn man nicht ins Gefängnis will, muss man den Rechtsstaat untergraben. Ähnliches spielt sich in Israel ab und anderswo. Es gibt aber einen weiteren Unterschied zu Trumps erster Präsidentschaft: 2017 hat er im Grunde zunächst mit republikanischen Kadern angefangen und sich dann vorgearbeitet. Am Ende hatte er dann seine faschistische Rechte gefunden, ein Team aus Faschisten wie Michael Flynn, die ihm am 6. Januar 2020 beim Putsch am nächsten standen. Das nächste Mal würde er gleich mit diesen Leuten starten. Trump will nicht im Gefängnis enden. Aber bedeutet, dass nicht, dass er bis zu seinem Tod Präsident bleiben müsste? Dieses Ziel bedeutet nicht nur eine zweite Amtszeit, sondern eine dritte, vierte, fünfte, ja. Trump befindet sich in der Putin-Position, er müsste im Amt sterben, weil die Verbrechen, die er begangen hat, offensichtlich sind. Niemand streitet ab, dass er einer ganzen Reihe krimineller Taten schuldig ist, genaugenommen nicht einmal er selbst. Welche Szenarien sind denkbar, wenn Trump zurück an die Macht kommt? Sie sind alle ziemlich schlecht. Das schlimmste Szenario besteht im Ende der USA. Putin dürfte das ganz recht sein. Daneben gibt es Abstufungen. Trump würde etwa versuchen, den gesamten öffentlichen Dienst zu verändern und dazu auffordern, Dinge zu tun, die entweder illegal oder unmoralisch sind. Für bestimmte Organe wie die Streitkräfte oder das FBI würde es schwierig. Es könnte zu einer Situation kommen, in der Teile der Behörden sich weigern, Befehle von oben zu befolgen, oder sich gar Teile der Behörden gegenseitig bekämpfen. Allein Trumps beabsichtigte Vertreibung von Millionen Menschen über die Grenze nach Süden klingt irrwitzig. Es ist sehr gut möglich, dass einige dieser Menschen sich in diesem Fall wehren und Teile der Bevölkerung ihnen dabei helfen würde. Dann könnte das Ganze außer Kontrolle geraten. Weil die USA ein föderales System sind, ist es zudem wahrscheinlich, dass einige dieser Maßnahmen in bestimmten Bundesstaaten viel schneller umgesetzt würden als in anderen, wo eher Widerstand zu erwarten wäre. Das könnte zu Abspaltungen von Bundesstaaten führen. Donald Trump ist ein Symptom der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Worin machen Sie die tieferliegenden Gründe aus? Es gibt eine Krankheit, die uns zu schaffen macht. Es handelt sich dabei um eine Art Selbstgefälligkeit. Sie äußert sich dadurch, dass man trotz aller Weisheit bis zu den Griechen der Antike hin zurück glaubt, dass Demokratie ein selbstverständlicher und normaler Zustand sei. Ist sie das? Nein. Demokratie ist etwas, um das wir wieder und wieder kämpfen müssen. In den USA ist die Lage umso schlimmer, weil wir nur über dieses Zweiparteiensystem verfügen. Wenn bestimmte Personen die Macht in einer dieser Parteien übernehmen, besteht am Ende eine Fifty-fifty-Chance, dass es zu einem autoritären Regimewechsel kommt. Trump hat das schlau angestellt. Trump wird oft als simpel gestrickter Demagoge dargestellt. Was halten Sie davon? Trump hat Talente, auch wenn manche Leute ihm das nicht zugestehen wollen. Er ist charismatisch. Er ist intelligent. Er hat eine gewisse Gerissenheit politischer, taktischer Art. Das macht ihn ja so erfolgreich und gefährlich. Menschen, die im anderen politischen Lager stehen, sehen Trumps Intelligenz nicht, weil er es in ihrem Referenzrahmen tatsächlich nicht ist: Er schert sich nicht um die Gesetze, Kompromisse interessieren ihn nicht. Aber in einem anderen Regime, nehmen wir den Faschismus, ist seine Art zu denken durchaus angemessen. Trump ist zum Beispiel gut darin, Feinde zu definieren. Und er ist richtig gut darin, andere Menschen sprachlich als Feinde zu definieren. Zwei weitere Krankheiten helfen ihm zusätzlich. Welche sind das? Das digitale Zeitalter seit etwa 2010 ist ebenfalls eine Art Krankheit. Die sozialen Medien neigen dazu, unser Denken auf eine Art und Weise umzugestalten, die eher mit dem Faschismus als mit der Demokratie übereinstimmt. Sie bringen uns dazu, in Form von Verschwörungstheorien zu denken, sie machen uns ungeduldig und lassen uns keine Kompromisse mehr eingehen. Die andere Krankheit besteht in der Vermögensungleichheit. Wenn ein paar Leute das Sagen haben, die auch noch die Medien beherrschen, hat die Demokratie es sehr viel schwieriger. Der Kampf um die Demokratie ist also ein schwierig, aber er kann gewonnen werden? Die Geschichte demonstriert diese Tatsache nachdrücklich und immer wieder. Professor Snyder, vielen Dank für das Gespräch.