Die Bemühungen um ein Geiselabkommen im Gaza-Krieg sind an einem kritischen Punkt angelangt. Von Optimismus war zuletzt die Rede. Doch Israels Regierungschef scheint seine eigene Agenda zu verfolgen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sorgt mit verschärften Bedingungen für eine Waffenruhe im Gaza-Krieg für Wut und Irritationen. Seine neue Forderung, dass in einem Abkommen die Rückkehr bewaffneter Hamas-Kämpfer aus dem Süden in den Norden des abgeriegelten Gazastreifens verhindert werden müsse, droht einem Medienbericht zufolge die zuletzt hoffnungsvollen Bemühungen um einen Deal zur Freilassung der Geiseln in der Gewalt der islamistischen Hamas zum Scheitern zu bringen. Mehrere Teilnehmer des israelischen Verhandlungsteams hätten bei Beratungen mit Netanjahu Vorbehalte gegen dessen Forderung geäußert, berichtete der gut vernetzte israelische Journalist Barak Ravid im Nachrichtenportal "walla.co.il". Sie sei nicht erfüllbar, wurde einer der Teilnehmer zitiert. Netanjahu hatte zuvor während einer Rede vor angehenden Offizieren seine Bedingungen für ein Abkommen bekräftigt, die er kürzlich vor Wiederaufnahme indirekter Verhandlungen aufgelistet und damit für Kritik gesorgt hatte. Geisel-Angehörige geschockt Bewaffnete Hamas-Kämpfer an einer Rückkehr in den Norden Gazas zu hindern, sei eine Forderung, die nicht Teil von Israels Ende Mai vorgelegter Position gewesen sei; es sei nicht klar, warum Netanjahu sie erhoben habe, zitierte Ravid seine Quelle. Das Forum der Angehörigen der in Gaza festgehaltenen Geiseln reagierte auf die Berichte, wonach Netanjahus neue Forderung eine Einigung auf ein Abkommen verhindern könnte, mit den Worten: "Wir sind wegen dieses unverantwortlichen Verhaltens entsetzt und schockiert". "Es könnte dazu führen, dass eine Gelegenheit verpasst wird, die vielleicht nie wieder zurückkehrt", heißt es in einer Erklärung. Netanjahu fordert jetzt außerdem, dass die israelische Armee auch künftig die Kontrolle über den sogenannten Philadelphi-Korridor ausübt, der im Süden Gazas entlang der Grenze zu Ägypten verläuft. Laut Israel hat die Hamas diesen Grenzbereich für den Schmuggel von Waffen in den Gazastreifen genutzt. Die israelische Armee hatte den Korridor vor einigen Wochen unter ihre Kontrolle gebracht. Dem "Wall Street Journal" zufolge ging es bei den in dieser Woche zuletzt in Kairo geführten Verhandlungen, bei denen Ägypten, Katar und die USA zwischen Israel und der Hamas vermitteln, um Ideen, wie dieser Grenzstreifen ohne die Präsenz der israelischen Armee gesichert werden könnte. Ägypten will, dass Israel seine Truppen dort wieder zurückzieht. Doch Netanjahus Büro stellte dazu jetzt in einer Mitteilung klar: "Der Ministerpräsident besteht darauf, dass Israel im Philadelphi-Korridor bleiben wird", hieß es. Darauf zu bestehen, in dem Gebiet zu bleiben, bedeute, "dass es keine Einigung gibt", zitierte die US-Zeitung einen ehemaligen Offizier des israelischen Militärgeheimdienstes und Leiter eines Forums für palästinensische Studien an der Universität Tel Aviv . Dass Netanjahu nun außerdem fordere, dass ein Abkommen eine Rückkehr von Hamas-Kämpfern aus dem Süden in den Norden des abgeriegelten Küstengebiets verhindert, sähen einige Mitglieder des israelischen Verhandlungsteams als rein taktisches Manöver, berichtete Ravid weiter. Netanjahu taktiert Netanjanhu verschärfe seine Haltung im Wissen um Geheimdienstinformationen, wonach die Hamas militärisch im Gazastreifen geschwächt sei und jetzt einen Waffenstillstand wolle, schrieb Ravid im US-Nachrichtenportal "Axios". Kritiker unterstellen Netanjahu, an einer Verhandlungslösung nicht interessiert zu sein. Netanjahu, gegen den ein Korruptionsprozess läuft, muss Rücksicht auf ultra-religiöse und rechtsextreme Koalitionspartner nehmen. Diese lehnen Zugeständnisse an die Hamas ab und drohen mit dem Platzen seiner Regierung. Netanjahu hatte kürzlich als nicht verhandelbare Bedingungen für ein Abkommen über eine Waffenruhe neben der Verhinderung einer Rückkehr bewaffneter Hamas-Kämpfer in den Norden Gazas das Recht Israels aufgeführt, die Kämpfe wieder aufzunehmen. Israel werde zudem die Zahl lebender Geiseln, die im Rahmen eines Deals von der Hamas freigelassen werden müssten, "maximieren". Waffenschmuggel von Ägypten aus werde unterbunden. "Dies sind unsere unumstößlichen Prinzipien", bekräftigte Netanjahu in einer Mitteilung seines Büros. Vorsichtiger Optimismus Bei den schleppend verlaufenden indirekten Verhandlungen, die meist in Kairo und in Doha stattfinden, geht es um den Austausch der verbleibenden israelischen Geiseln in der Gewalt der Hamas gegen palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen und um Wege zu einer dauerhaften Waffenruhe. Zuletzt war in Verhandlungskreisen vorsichtiger Optimismus aufgekommen, weil die Hamas einige ihrer starren Positionen gelockert zu haben schien. Vermittler und ehemalige Verhandlungsführer sagten dem "Wall Street Journal", Netanjahu habe schon in der Vergangenheit Fortschritte in den indirekten Verhandlungen durch öffentliche Äußerungen und die Einschränkung des Mandats des eigenen Verhandlungsteams behindert. Seine jüngsten Äußerungen könnten als Fortsetzung dieses Trends betrachtet werden. Es gebe noch offene Punkte, die über das hinausgingen, was mit den Vermittlern vereinbart worden sei, wurde ein ranghoher ägyptischer Beamter zitiert. Krieg geht weiter Dies behindere die Fortschritte bei den Verhandlungen über einen Geisel-Deal, sagte der Beamte. Nach israelischer Schätzung werden noch rund 120 Geiseln in Gaza festgehalten. Viele von ihnen dürften allerdings nicht mehr am Leben sein. Auslöser des Kriegs war das beispiellose Massaker, das Terroristen der Hamas sowie anderer extremistischer Palästinenserorganisationen am 7. Oktober vergangenen Jahres im Süden Israels verübt hatten. Sie töteten mehr als 1.200 Menschen und verschleppten weitere 250 nach Gaza. Nach mehr als neun Monaten Krieg steht Israel wegen der vielen Opfer unter der palästinensischen Bevölkerung und der immensen Zerstörungen international in der Kritik. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden in Gaza bereits mehr als 38.300 Palästinenser getötet. Die Zahl macht keinen Unterschied zwischen Zivilisten und bewaffneten Kämpfern und lässt sich unabhängig nicht überprüfen.