Mit ihrem pragmatischen Turnier-Fußball erinnert die englische Nationalmannschaft bei der EM an die deutsche Elf vergangener Tage. Gary Lineker fürchtet deshalb einen neuen Fluch. Gary Lineker lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück. Das Interview, das der ARD-Experte Thomas Hitzlsperger mit dem früheren englischen Nationalspieler führte, war schon fast am Ende angekommen. In den vorangegangenen knapp 20 Minuten hatte Lineker, der selbst mittlerweile seit vielen Jahren in England als TV-Experte arbeitet, sämtliche Fragen zur englischen Nationalelf und der Europameisterschaft gewohnt souverän und unterhaltsam beantwortet. Dann kam sie aber doch noch, die Frage, die ihn aus dem Konzept und in die Bredouille brachte. Lineker hatte soeben über die neuen Qualitäten der englischen Nationalelf und auch deren Nervenstärke in brenzligen Situationen sowie beim Elfmeterschießen gesprochen. Hitzlsperger hakte nach und stellte die Frage aller Fragen: "Würden Sie sagen: England ist das neue Deutschland?" "Ist England das neue Deutschland?" Lineker lachte. "Dazu werde ich nichts sagen", antwortete er dann immer noch grinsend. "Ich werde nichts jinxen." Also jenen Gedanken, den er wohl tatsächlich zumindest in seinem Hinterkopf hatte, möglicherweise dadurch verfluchen, dass er ihn laut ausspricht. Nach einer kurzen Pause fügte er noch vielsagend hinzu: "Ich kann einfach nur hoffen." Die eigene Vergangenheit hat Lineker gelehrt, mit dem Ausspruch von derart grundsätzlichen und weitgreifenden Urteilen vorsichtig zu sein. Zur Erinnerung: Der 63-Jährige ist genau der Mann, der bei der WM 1990 mit England gegen Deutschland mit 3:4 im Elfmeterschießen unterlag – und für folgenden Satz berühmt wurde, den er anschließend sagte: "Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten einem Ball nach und am Ende gewinnen immer die Deutschen." Unter dieser sich selbsterfüllenden Prophezeiung leiden besonders er und mit ihm die gesamte englische Fußballnation seitdem im Prinzip bis heute. Besonders schmerzvoll war dabei die Erfahrung der erneuten Halbfinalniederlage im Elfmeterschießen (5:6) bei der Heim-EM 1996 in England. England erinnert an Deutschland Ganz abwegig ist der Gedanke von England als dem neuen Deutschland nun bei dieser Europameisterschaft aber nicht. Schließlich lavierten die "Three Lions" auf ähnliche Art und Weise durch das Turnier, wie das schon der deutschen Elf bei so manchem großen Turnier in der Vergangenheit gelungen war. Nur zwei Spiele gewann England nach 90 Minuten. Im Achtelfinale gegen die Slowakei fiel die Entscheidung in der Verlängerung (2:1), im Viertelfinale gegen die Schweiz im Elfmeterschießen (5:3). Das entscheidende Tor zum 2:1 im Halbfinale gegen die Niederlande gelang Ollie Watkins nun in der 90. Minute – und damit ein dramatischer Last-Minute-Finaleinzug. Abgesehen vom Halbfinale spielt England bislang nicht schön, aber eben erfolgreich. "Ich bin ein Stürmer, ich mag offensiven, aggressiven, dynamischen Fußball. Wie ihn Deutschland gespielt hat. Aber Deutschland ist raus", sagte Lineker und gab unumwunden zu: "Ich würde lieber langweiligen Fußball sehen und gewinnen." Denn: "Es ist ein Lebensziel von mir, mal zu sehen, wie England irgendetwas gewinnt." Letztmals gelang das den Briten vor 58 Jahren bei der Heim-WM 1966. Bereits bei der EM 2021 schaffte es die Mannschaft um Harry Kane und Co. immerhin bis ins Finale in Wembley. Allerdings nur, um sich dort Überraschungschampion Italien geschlagen geben zu müssen – passenderweise mal wieder im Elfmeterschießen (2:3). Lineker: "Mein Herz sagt England, mein Kopf Spanien" Am Sonntag in Berlin steht England nun erstmals außerhalb des eigenen Landes in einem großen Finale. Und greift dort gegen die bislang furios aufspielenden Spanier, die Mannschaft des bisherigen Turniers, nach dem Titel – und das ausgerechnet in Deutschland. Der Schlussakt im englischen Drama. Wie das wohl enden wird? "Mein Herz sagt England, mein Kopf sagt Spanien", sagte Lineker. Und am Ende gewinnt England? Sollte sein Herzenswunsch tatsächlich in Erfüllung gehen, "würde das ganze Land durchdrehen", ist er sich sicher. "Die Erwartung und die Hoffnung sind schon so lange da." Die Leute würden "jetzt auf diese Gruppe von Spielern schauen und sagen: 'Wow, wir haben so viel Talent.'" Von der Qualität der Einzelspieler her habe man momentan "definitiv die beste Mannschaft, die England jemals hatte", findet auch Lineker selbst. Anlässlich der bevorstehenden historischen Chance meldete sich sogar der britische König Charles III. zum bevorstehenden Finale zu Wort. "Wenn ich euch ermutigen dürfte, den Sieg zu sichern, bevor Wundertore in letzter Minute oder ein weiteres Elfmeterdrama nötig würden", sagte der König einer Mitteilung des Palastes zufolge. Dann würde "die Belastung für den kollektiven Puls und Blutdruck der Nation erheblich gemildert", hieß es weiter. Auch Charles dürfte es aber wohl verschmerzen können, wenn für die englische Nationalelf noch ein weiteres Fußballdrama nötig sein sollte, um sich zum Europameister zu krönen. Sollte es dazu kommen, es wäre nach dem bisherigen Turnierverlauf definitiv nicht auf die feine englische Art gelungen. Eher auf eine sehr pragmatische Weise – eine typisch deutsche eben.