Nach 30 Jahren kehrt Michelle der Musik den Rücken. Mit ihrem letzten Album blickt sie auf ihre Karriere zurück. Es gab viel zu erzählen, erklärt sie im t-online-Interview. Michelles Tage im Scheinwerferlicht sind gezählt: Die Schlagersängerin hat sich dafür entschieden, ihre Karriere zu beenden . Ihr letztes Album "Flutlicht" wurde am 5. Juli veröffentlicht – es ist der musikalische Abschied der 52-Jährigen. 2026 wird sie mit ihren neuen Songs dann noch auf Tour gehen. Michelle bezeichnet die Lieder als ihre persönlichste Arbeit, denn sie blickt auf die Höhen und Tiefen der vergangenen Jahrzehnte zurück. Als die Musikerin ihr Leben im t-online-Interview Revue passieren lässt, nutzt sie eine Metapher: Sie sieht sich als Baum ohne Wurzeln, der sich mit zahlreichen Stürmen konfrontiert sah. Ein Baum, der einst kurz vor dem Umkippen stand. In diesem Bild schwingt viel Kritik mit: Denn über die Schlagerbranche hat Michelle wenig Positives zu berichten. t-online: Michelle, Sie stehen kurz vor der Veröffentlichung Ihres neuen Albums. Es trägt den Namen "Flutlicht". Wie fühlen Sie sich so kurz vor der Veröffentlichung? Michelle: Es ist eigentlich genau wie bei jedem Album. Der besondere Punkt bei diesem Album ist jedoch, dass es sehr authentisch ist. Ich verarbeite damit sehr viele Lebensgeschichten. Und ich habe natürlich den Wunsch, dass es sehr viele Menschen erreicht, die ähnliche Geschichten haben. Es ist für mich immer sehr wichtig, dass ich Songs singe, die nicht nur das Image einer heilen Welt predigen, sondern dass es Geschichten sind, die das Leben schreibt. Das Leben hat eben Ecken und Kanten. Da ist nicht nur diese reine weiße Weste, die man immer trägt. Und ich wünsche mir, dass sich viele Menschen mit dieser Botschaft identifizieren können. Dass es auch dazu motiviert, das Beste aus dem Leben zu machen, aufzustehen aus schwierigen Situationen, der Sonne entgegenzulaufen, den Schatten hinter sich zu lassen. Für Ihre Fans ist es auch ein trauriger Moment, denn "Flutlicht" wird Ihr letztes Album sein. Warum ist jetzt gerade der richtige Zeitpunkt, Ihre Karriere zu beenden? Das, was für mich der ausschlaggebende Punkt ist, ist nicht das Singen selbst. Auch nicht, das Auf-der-Bühne-stehen. Den Menschen Energie zu geben, eine gewisse Art von Heilung zu schenken, war für mich immer sehr wichtig. Das ganze Drumherum ist der ausschlaggebende Punkt, weshalb ich mich aus dieser Musikbranche zurückziehe. Es ist ja nicht nur so, dass man eine Stunde auf der Bühne steht. Es ist das Reisen, jeden Tag in einem anderen Hotel, dieses haltlose Leben. Es ist für mich der Punkt gekommen, an dem ich damit nicht mehr so gut zurechtkomme. Das hat mich in meinem Leben auch schon viel Zeit gekostet. Ich will aus diesem Laufrad rauskommen und mal zur Ruhe finden. Das ist für meine Familie und für mich persönlich wichtig. Kürzlich haben Sie Kritik an der Musikbranche geübt. Sie haben das Gefühl, dass es Frauen schwerer haben. Inwiefern hat sich das im Laufe Ihrer Karriere bemerkbar gemacht? Schon sehr früh. Als ich noch nicht auf den Bühnen dieser Welt gestanden habe, bin ich mit einer Kassette von Studio zu Studio gelaufen und wollte Sängerin werden. Ich hatte damals schon eine eigene Band, mit der ich aufgetreten bin – aber ich wollte einfach mehr. Ich wollte auf die große Bühne. Aber damit war ein steiniger Weg verbunden. Viele Produzenten waren der Meinung, sie müssten mit mir etwas Sexuelles anfangen, bevor sie mir diesen Weg ermöglichen. Darauf habe ich mich natürlich nicht eingelassen. Das war für mich ein absolutes No-Go. Irgendwann habe ich dann Gott sei Dank jemanden gefunden, der das nicht wollte und mit dem habe ich dann auch zusammengearbeitet. Dieser Mensch hat sehr viel für mich getan. Durch Kristina Bach habe ich dann schließlich den Weg in die Branche gefunden. Jetzt, in meinen reiferen Jahren, musste ich diese Erfahrungen zum Glück nicht mehr machen. Ich bin jetzt eine gestandene Künstlerin. Aber trotzdem würde ich behaupten, dass es bei den Newcomern heutzutage immer noch genauso abläuft wie bei mir damals. Es hat sich nichts geändert. Konnten Sie sich damals mit diesen Erfahrungen an jemanden wenden? Wurden Sie ernst genommen? Für die Leute in der Branche waren diese Praktiken selbstverständlich. Ich bin aber kein Mensch, der das akzeptiert. Aber es gab zum Teil sehr übergriffige Situationen. Das wurde dann einfach als normales Verhalten hingestellt. Ich habe mich aber immer dagegen gewehrt. Gab es zu diesen Zeitpunkten auch Zweifel an Ihren Karriereplänen? Nein, ich wusste, dass es da irgendwo einen Menschen gibt, der das garantiert anders handhabt. Ich habe auch einfach an mich selbst geglaubt. Ich wusste, dass ich mich auf diese Dinge nicht einlassen muss, auch, wenn es dann vielleicht schwerer ist. Ich war ja schon immer ein Befürworter der schwierigen Wege. Ein einfacher Weg ist nicht immer der richtige Weg. Ich habe also einfach den schwereren Weg gewählt. Was würden Sie jungen Künstlerinnen raten: Was ist wichtig, um in dieser Branche zu überstehen? Bleib dir selbst treu. Ich glaube, wichtig ist, dass jeder Mensch sich selbst treu bleibt und den Weg geht, den er gehen möchte. Das ist einfach das Wichtigste. Ich muss jeden Tag in den Spiegel gucken können und sagen: Was ich gemacht habe, war für mich richtig. Es hat sich gut angefühlt. Dann kann nichts schiefgehen. In der Schlagerbranche wird häufig von einem starken Konkurrenzkampf berichtet. Wie nehmen Sie das wahr? Am Anfang ist es immer erst mal ein bisschen heile Welt. Man denkt, es ist eine große Familie. Jeder meint es gut mit einem, alle sind Freunde. Aber ich habe leider erst sehr spät erfahren: Je erfolgreicher du bist, desto schwieriger wird es, dass Menschen dir gut gesonnen sind. Es ist halt einfach ein Konkurrenzkampf. Ich finde das schade, denn ich hatte dieses Konkurrenzdenken nie. Ich bin der Meinung, jeder hat das Recht auf Erfolg. Auch Neid ist für mich ein schwieriges Thema. Das ist etwas, was ich nicht nachvollziehen kann. Ich glaube aber, dass das nicht nur in der Medienbranche der Fall ist. Das betrifft Menschen in jedem Beruf. Es gibt überall Leute, die anderen den Erfolg nicht gönnen. Sie wollen sich künftig mehr Zeit für die Familie nehmen. Wie oft gab es in den vergangenen Jahren Momente, in denen Sie sich einsam gefühlt haben? Ich habe in den falschen Menschen Familie gesehen. Ich bin da sehr verblendet in all diese Prozesse rein, sozusagen von der Straße auf die Bühne. Ich wusste nicht, was richtig oder falsch ist. Aber natürlich habe ich immer nach dieser Familie gesucht und dachte, jeder ist ein Freund. Ich musste dann erfahren, dass ich zum Teil den falschen Menschen vertraut habe. Oft dachte ich, dass ich Menschen an meiner Seite habe, die mit mir für ein gemeinsames Ziel kämpfen. Das ist ein Lernprozess, den man durchlaufen muss. Deshalb bin trotzdem dankbar dafür: Sonst wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin. "Flutlicht" ist Ihr musikalischer Abschied. Wie sehr hat dieser Gedanke auch bei der Produktion des Albums eine Rolle gespielt? Wir wollten meine Lebensgeschichte aufschreiben. Das haben wir drei Tage lang gemacht, haben uns dafür drei Tage und Nächte eingesperrt. Von dem Ergebnis hätten wir 20 Alben machen können. Es gibt einfach so viele Geschichten zu erzählen, die das Leben schreibt und mit denen Menschen sich identifizieren können. Es ist einfach die schönste Arbeit, die es gibt: Im Studio zu stehen und einem Album Leben einzuhauchen, den Text authentisch zu machen und in Musik umzuwandeln. Ein Gefühl zu transportieren. Ich danke dem lieben Gott dafür, dass er mir eine Stimme gegeben hat. Ich weiß, dass nicht jeder meine Stimme mag. Sie ist sehr besonders, anders – daher muss sie auch nicht jeder mögen. Ich habe diese Gabe in die Wiege gelegt bekommen und ich glaube, ich habe in meinem Leben das Beste daraus gemacht. Mit dem Album blicken Sie auf Ihr Leben zurück. In dem Song "Gespräch mit Gott" verarbeiten Sie einen gescheiterten Suizidversuch. Welche Gefühle löst dieses Kapitel in Ihnen aus? Sehr viel Dankbarkeit. Ich habe in der Vergangenheit viele Situationen erlebt, die mich am Ende stärker gemacht haben. Und ich wollte das aufgreifen, weil das im gesanglichen Bereich bis heute noch ein Tabuthema ist. Gerade auch, weil man in dieser Schlagerbranche gerne eine weiße Weste hat. Es geht immer nur um eine heile Welt. Aber ich glaube, dass die Menschen da draußen auch die wirklichen Geschichten des Lebens brauchen. Jeder Mensch hat Ecken und Kanten, jeder Mensch hat Höhen und Tiefen. Viele Menschen fühlen sich mit diesem Thema allein, weil sie glauben, nur ihnen geht es so. Sie fühlen sich komisch, anders, fehl am Platz und glauben, dass sie keine Hilfe verdient haben. Ich glaube, es ist wichtig, dass eben diese Menschen wissen, dass auch bekannte Künstler nur Menschen sind, die sich auch mit diesen Gedanken konfrontiert sehen. Ich will zeigen, dass es einen Weg aus diesen dunklen Momenten heraus gibt. Im Laufe Ihrer Karriere haben Sie 15 Alben herausgebracht. Auf welches sind Sie rückblickend besonders stolz? Ich bin auf alle Alben stolz, weil alle ein Teil meines Weges sind. Ich habe mich meiner Meinung nach sehr gut nach vorne entwickelt. Man kann einen Reifeprozess erkennen. Ich könnte mich heute nicht mehr hinstellen und Zeilen wie "Erste Sehnsucht, Tränen auf rosa Briefpapier" singen – das würde mir keiner mehr abnehmen. Ich betrachte jedes meiner Alben als Weiterentwicklung. Heute gucke ich mit einem anderen Blick auf Themen als zu Beginn meiner Karriere, das ist ganz klar. Wenn Sie jetzt auf sich als Musikerin zurückblicken: Was macht die Michelle von heute anders als die Michelle vor 30 Jahren? Alles. Außer eins: Ich stand immer hinter mir. Ich bin meinen Weg immer so gegangen, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Dafür habe ich sehr viel Gegenwind erfahren. Aber heute gehe ich natürlich mit mehr Reife und Wissen an Situationen. Ich sage immer, das Leben ist wie ein leeres Blatt: Zu Beginn meiner Karriere war dieses Blatt noch sehr leer, heute ist es mit vielen wunderbaren Geschichten gefüllt. Im Pressetext Ihres Albums werden Sie als Enfant terrible des Schlagers bezeichnet. Was macht Sie Ihrer Meinung nach dazu? Dass ich falle und aufstehe – und mich dafür auch nicht schäme. Im Leben macht man Fehler. Aber ich bin mir immer treu geblieben. Ich bin ein Paradiesvogel, aber trotzdem nur ein einfacher Mensch. Ich habe meine Einfachheit nicht verloren, stehe mit beiden Beinen im Leben. Und ich habe immer sehr viel Gegenwind und Kritik erfahren, bin aber trotzdem meinen Weg gegangen. Ich habe nichts gemacht, um anderen zu gefallen. Ich habe immer so gehandelt, wie ich es für richtig gehalten habe. Auch, wenn es am Ende vielleicht mal nicht die richtige Entscheidung war. Ihre Karriere war auch von Rückschlägen begleitet. Gibt es eine Schlagzeile, auf die Sie gerne verzichtet hätten? Ich hätte gerne auf alle Schlagzeilen dieser Welt verzichtet. Denn nichts ist so langweilig wie die Schlagzeile von gestern. Es ist alles vergänglich. Jeden Tag gibt es neue Schlagzeilen. Und das ist auch ok. Ich finde nur, dass sich die Welt um Dinge drehen sollte, die wirklich wichtig sind. Dinge, die Menschen bewegen. In den Medien wurde nicht nur Ihre musikalische Wandlung thematisiert, sondern auch Ihr Privatleben. Sie hatten mit Matthias Reim einen bekannten Partner an Ihrer Seite, trotz Trennung pflegen Sie nach wie vor ein freundschaftliches Verhältnis. Wie haben Sie das geschafft? Das sollte das Ziel jeder Familie sein, die auseinandergeht. Dass man sich versteht. Es ist ja nicht nur ein Er und Ich, es gibt ja auch ein Kind. Ich glaube, den größten Fehler, den Menschen machen, ist, dass man Kinder dafür missbraucht, sich gegeneinander aufzuhetzen und gegeneinander auszuspielen. Wir sind doch erwachsene Menschen. Wenn ein Lebensabschnitt zu Ende geht, dann ist er einfach zu Ende. Da muss man erwachsen damit umgehen. Man begegnet sich doch immer wieder, warum soll man sich dann mit Negativität das Leben schwer machen? Das ist nicht meine Devise. Ein Thema, das in den Medien gerade stark diskutiert wird, ist die fehlende soziale Absicherung von freischaffenden Künstlern. Wie haben Sie für die Zukunft vorgesorgt? Das ist tatsächlich ein sehr schwieriges Thema, weil einfach viele Dinge da nicht richtig laufen. Aber trotzdem muss jeder für sich selbst entscheiden, welchen Weg er geht und wie er vorsorgt. Als ich mich dafür entschieden habe, meine Live-Karriere zu beenden, hatte ich natürlich auch im Hinterkopf, dass ich mir etwas suchen muss, damit ich mich sicher fühle. So, dass ich glücklicher werde. Es geht darum: Was macht dich glücklich? Mit was bin ich zufrieden? Jeder hat selbst in der Hand, etwas zu verändern. Auf Ihrem neuen Album gibt es den Song "Der letzte Gang". Darin lautet eine Zeile "Rollt den roten Teppich weg". Werden Sie der Öffentlichkeit tatsächlich komplett den Rücken kehren? Wie ich das künftig handhaben werde, möchte ich noch nicht verraten. Fakt ist, ich werde auf jeden Fall nicht mehr in einem Auto sitzen und zu viel Zeit in irgendwelchen Hotels verbringen. Das hat mich bereits viel zu viel Lebenszeit gekostet. Ich werde jetzt meine Wurzeln schlagen. Denn ich bin immer ein Baum gewesen, der weiter und weiter nach oben wächst, aber nie eine Wurzel hat. Die Stürme dieses Lebens zu überleben, war für mich daher auch immer eine große Schwierigkeit. Denn mir haben die Wurzeln gefehlt. Sie sind im Laufe Ihrer Karriere nicht nur musikalisch gewachsen, sondern auch älter geworden. Haben Sie in den vergangenen Jahren eine Veränderung bemerkt, wie man Ihnen als Künstlerin gegenübertritt? Ich glaube, dass es in der Musikbranche noch mal anders ist als zum Beispiel in der Schauspielerei. Bei uns heißt es nicht gleich: Nur weil man älter wird, wird man nicht mehr gebucht. Man wird eher als gestandene Künstlerin betrachtet. Und ich glaube auch, dass es genau das ist, was mich ausmacht. Wenn Sie auf die Nachwuchskünstler in der Musikwelt blicken: In wem sehen Sie Potenzial? Newcomer haben es unfassbar schwer. Wenn ich die musikalische Entwicklung der vergangenen Jahre sehe, muss ich sagen: Ich habe wenig Hoffnung. Jeder versucht, sich anzupassen. Jeder versucht etwas zu machen, was schon mal da war. Jeder versucht, sich auf irgendwelche Hits draufzusetzen. Meiner Meinung nach fehlen Ecken und Kanten. Ich glaube, dass es schwierig ist in dieser Branche etwas Neues zu machen. Für die Zukunft der Newcomer sieht es daher sehr schlecht aus. Eine Newcomerin kommt aus Ihrer Familie: Ihre Tochter Marie Reim macht ebenfalls Musik. Wie oft fragt sie Sie nach musikalischem Rat? Musikalisch fragt Marie mich nie um Rat. Sie ist eine eigenständige Künstlerin. Sie hat ihren eigenen Kopf, sie hat ihre eigenen Vorstellungen. Wahrscheinlich würde ich ihr auch immer den falschen Rat geben. Musikalisch haben sich die Zeiten geändert. Ich komme aus einer völlig anderen Ära. Dazu kommt, dass ich natürlich auch ihre Mama bin. Deswegen würde ich wohl immer den mütterlichen Rat geben – und das ist in der Musikbranche nicht sonderlich hilfreich. Sie sagen, Ihr Leben wird sich jetzt ändern. Mit Blick in die Zukunft: Wo sehen Sie sich in 15 bis 20 Jahren? Also, die Reise ist ja noch nicht ganz zu Ende. Jetzt kommt erst mal das Album und 2026 gehe ich dann damit auf Tour. Es ist also noch ein bisschen hin, bis sich mein Leben dann tatsächlich verändert. Aber in 15 bis 20 Jahren bin ich auf jeden Fall komplett angekommen in meinem Leben. Meine Wurzeln haben tief in die Erde geschlagen und mein Baum kann noch höher wachsen. Er ist dann so gut verwurzelt, dass kein Sturm der Welt ihn umkippen kann.