Eskalation binnen Minuten - am zweiten Prozesstag um die Gewalt am Rande des Eritrea-Festivals in Gießen schildern Polizisten, wie sie den Einsatz vor einem Jahr erlebten.
Mit Zeugenanhörungen mehrerer Polizisten ist der Prozess um die gewaltsamen Ausschreitungen am Rande des umstrittenen Eritrea-Festivals vor dem Amtsgericht Gießen fortgesetzt worden. Ein Beamter, der am 8. Juli vor einem Jahr während der Proteste unmittelbar an einer Absperrung mit Polizeifahrzeugen eingesetzt war, sprach am zweiten Prozesstag von "bürgerkriegsähnlichen Zuständen" in Gießen.
Binnen weniger Minuten sei an jenem Morgen die Situation eskaliert. Zuerst habe er regelrechte "Schlachtrufe" gehört, daraufhin hätten zahlreiche Personen versucht, über die Polizeifahrzeuge zu kommen, etwa fünf Personen hätten auf ihn eingeschlagen und -getreten, er sei an der Schulter verletzt worden, sagte der Polizist. Wer genau sich daran beteiligt habe, könne er nicht sagen. "Ich habe gedacht, wenn die alle übers Auto kommen, die bringen uns um."
Polizist: Das Schlimmste, was ich in meiner Laufbahn bisher erleben durfte
Die Protestierenden hätten Steine und Flaschen geworfen und seien auch mit Holzlatten auf die Beamten losgegangen. Um sich zu schützen, habe er sich vorübergehend mit einer Kollegin hinter einem Funkwagen versteckt. Kurz darauf seien zahlreiche weitere Polizeifahrzeuge und auch ein Wasserwerfer zum Ort des Geschehens gekommen.
Die Erlebnisse beschäftigen ihn bis heute, wie der Polizist deutlich machte. "Das ist das Schlimmste, was ich in meiner polizeilichen Laufbahn bisher erleben durfte". Die Ausschreitungen hätten sich gegen die Polizei und "gegen den deutschen Staat" gerichtet.
24-Jähriger angeklagt
Angeklagt ist in dem Prozess ein 24-Jähriger, der sich an den Protesten beteiligt haben soll. Die Staatsanwaltschaft legt ihm schweren Landfriedensbruch, tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte sowie gefährliche Körperverletzung zur Last. Nach der Sichtung von Videoaufzeichnungen und der Befragung eines Polizisten hatte der Vorsitzende Richter den Haftbefehl gegen den Angeklagten am ersten Prozesstag gegen eine Kaution von 5000 Euro außer Vollzug gesetzt.
Es ist der erste Prozess im Zuge der gerichtlichen Aufarbeitung der Ereignisse vor einem Jahr in Gießen. Nach Polizeiangaben waren bei den Ausschreitungen am Rande des Festivals im Juli 2023 insgesamt 26 Polizistinnen und Polizisten verletzt worden. Nach Ansicht der eritreischen Gegner der Veranstaltung standen die Teilnehmer des Festivals dem diktatorischen Regime in ihrem Heimatland nahe. Die Gegner hatten Beamte mit Steinen und Flaschen beworfen, Rauchbomben gezündet und Absperrungen durchbrochen bei dem Versuch, auf das Festivalgelände zu gelangen.
Auch ermittelnde Beamte als Zeugen gehört
Das Gericht hörte auch mehrere ermittelnde Beamte als Zeugen, darunter ein Polizist, der sich nach eigenen Angaben im Rahmen der Aufarbeitung ein Bild von den Verletzungen betroffener Kolleginnen und Kollegen machen wollte. Dabei sei es vor allem um eine Hundertschaft aus vorwiegend jungen Polizistinnen und Polizisten aus Leipzig gegangen, die an einer Kreuzung im Gießener Stadtgebiet eingesetzt und besonders stark von Verletzungen betroffen gewesen seien, sagte der Zeuge. Er habe dafür gebeten, dass diese Kolleginnen und Kollegen ihre Erfahrungen in persönlichen Berichten beschreiben sollten.
Mit seinem Vorgehen, das seine eigene Idee gewesen sei, habe er in den Blickpunkt rücken wollen, welche persönlichen Folgen das Geschehen für die jungen Polizistinnen und Polizisten gehabt habe, so der Zeuge. Die Verteidigerin des 24-Jährigen sprach von einer "Märchenstunde" und erklärte, der Beamte habe aus einem "Anliegen" einen "Auftrag" gemacht. Sie lehnte zugleich die Verwertung der Einlassungen des Beamten ab. Am 26. Juli wird der Prozess fortgesetzt. Dann dürften auch die Plädoyers und die Urteilsverkündung anstehen.