Die Ronaldo-Hasser, sie haben nur darauf gewartet, auf den Moment der Schwäche. Als CR7 einen Elfmeter gegen Slowenien verschießt, ergießt sich blanker Hohn über die Ikone. Warum nur?
Was darf's sein? Blinde Verachtung oder bedingungslose Verehrung? An wenigen Figuren scheiden sich die Geister so sehr wie an Cristiano Ronaldo, dem vielleicht bekanntesten Menschen des Planeten. Für die einen ist er eine gleißende Lichtgestalt. Eine Ikone, auf und jenseits des Platzes. Für die anderen ist er der personifizierte Kommerz, das Sinnbild für die Verkauf der Fußballseele.
Weil Meckern (zumindest im Internet) lauter ist als Liebe, wirkte es dieser Tage so, als hätte die Anti-Meute nur darauf gewartet, dass CR7 scheitert. Dass er über seine jahrelang kultivierte Arroganz stolpert, dass er ausbrennt. Als Ronaldo, der zweite, letzte und beste seines Namens dann einen womöglich vorentscheidenden Elfmeter im EM-Achtelfinale verschießt, ist das für für sie die gerechte Rache des guten, alten Fußballgottes. Dass sich der Gescheiterte seines Versagens so sichtbar bewusst ist, dass er bittere Tränen vergießt? Ein Augenschmaus für all die digitalen Gaffer, die geifernd über ihre Smartphones gebeugt, Helden sterben sehen wollen.
Diese Schadenfreude, obwohl so erwartbar, ist unglaublich verlogen. Lasst den Mann, nicht die Legende, doch heulen! Glosse EM 2064 15.50
Natürlich ist es nicht so, als hätte Ronaldo solche Missgunst nicht selbst beschworen. Denn er, der vermeintlich Unfehlbare, bekam es zuletzt mit einem ungewohnten Begriff zu tun: Bescheidenheit. Denn das ist seine bisherige Turnierleistung eben – sehr bescheiden. So beeindruckend die Physis des 39-Jährigen auch ist. Der Mann ist alt geworden und will es offenbar nicht wahrhaben. Früher schlotterten den Abwehrmauern die Knie, wenn CR7 vor dem Freistoß in seine berüchtigte, breitbeinige Position ging. Heute wirkt er dabei eher wie ein Rentner, der im Studentenclub steht und die steifen Hüften zu ihm völlig unbekannten Beats schwingt.
Durch seine sportliche Geltungssucht verzerrt er das portugiesische Spiel. Denn von ihm, der lebenden Legende, geht eine solche Gravitation aus, dass die wahren Stars des Ensembles wie Bruno Fernandes oder Bernardo Silva gar nicht anders können, als sich um ihn zu drehen. Er sollte ein Leuchtturm zur Orientierung sein, keine Sonne zum Verbrennen. Nur ist er es nicht mehr gewohnt, sich unterzuordnen. Wenig förderlich auch, dass selbst Nationalcoach Roberto Martínez längst zur Riege der Ja-Sager zählt und sich bei jeder Gelegenheit öffentlichkeitswirksam vor Ronaldo in den Staub wirft.
CR7, das ist eine Marke, kein Mensch. Doch gibt es ihn, den Menschen hinter der PR-Fassade. Und der darf auch mal weinen, wenn es weh tut. Und mal ehrlich: Wer kann kurz vor Karriereende noch von sich behaupten, weiterhin 100 Prozent zu geben? Ronaldo gibt 110 Prozent. Auch wenn die nicht mehr reichen.
Und doch wirkte der verschossene Strafstoß wie ein Paukenschlag. Als sei in diesem Moment etwas in ihm zerbrochen. Die Tränen, das war deutlich zu sehen, die wollte er zurückhalten, konnte es aber nicht. Mit einem Mal stand da ein Mann, der sein Vermächtnis bröckeln sah, für das er sich immer wieder bis an seine Grenzen und darüber hinaus gequält hatte. Wie er nach Abpfiff der 90 Minuten im Kreis seiner Jungs stand, die ihrem Kapitän und Kindheitsidol auf die Schulter klopften, Mut zusprachen – das war ganz groß. Ein Bild, für das man Fußball einfach lieben muss. Jude Bellingham 13.47
Dass Ronaldo im anschließenden Elfmeterschießen trotzdem ohne zu zögern als erster zum Punkt schritt, hatte nichts mit falschem Ehrgeiz zu tun – es war eines echten Anführers würdig. Als er nach dem diesmal versenkten Elfer entschuldigend, ja demütig die Hände in Richtung Fans hob, demonstrierte er erneut Bescheidenheit. Diesmal allerdings im besten Sinne.
Es ist ihm sehr zu wünschen, dass er dieses Gefühl bewahrt, dass er CR7 hinter sich lassen und eines Tages einfach nur noch Cristiano sein darf. Verdient hätte er es.