Nach dem Immunitäts-Urteil richtet sich Präsident Biden mit dramatischen Worten an das amerikanische Volk. Doch obwohl auch er jetzt viel mächtiger ist, wirkt er weitgehend ohnmächtig. Bastian Brauns berichtet aus Washington So mächtig wie heute war Joe Biden noch nie. Als der Präsident am Montagabend im Weißen Haus vor die Kameras trat, um sich sorgenvoll an die Nation zu wenden, war das dramatische Immunitäts-Urteil des Supreme Court noch keine 12 Stunden alt. Joe Biden ist mächtiger denn je, weil Amerikas oberste Richter mit ihrer Entscheidung nach Ansicht zahlreicher Rechtsexperten nicht weniger als ein vollkommen neues Verständnis vom Amt des amerikanischen Präsidenten geschaffen haben. Geurteilt hatten sie mit ihrer konservativen Mehrheit, weil Donald Trump eine Immunität für die gegen ihn laufenden Gerichtsverfahren eingeklagt hatte. Ihre Entscheidung aber reicht weit über den Fall Trump hinaus. Nach Ansicht der Richter ist jeder US-Präsident ab sofort vor jeglicher Strafverfolgung per Immunität geschützt, solange es sich um offizielle Amtsgeschäfte handelt. Was dabei als "offiziell" gilt, ließen die Richter allerdings offen. "Keine Beschränkungen mehr" Wie besorgniserregend dieses Urteil für die USA ist, das versuchte Joe Biden in seiner spontan anberaumten Rede zu verdeutlichen. "Diese Nation wurde auf dem Prinzip gegründet, dass es in Amerika keine Könige gibt", sagte er. Jeder sei vor dem Gesetz gleich. Niemand stehe über dem Gesetz, "nicht einmal der Präsident der Vereinigten Staaten". "Die heutige Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zur Immunität des Präsidenten hat dies für alle praktischen Zwecke grundlegend geändert", so Biden weiter. Die heutige Entscheidung bedeute mit ziemlicher Sicherheit, "dass es praktisch keine Beschränkungen mehr dafür gibt, was ein Präsident tun kann." Das Urteil stelle darum einen "gefährlichen Präzedenzfall" dar. Die Macht des Amtes werde nicht mehr durch das Gesetz eingeschränkt, nicht einmal mehr durch den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten selbst. "Die einzigen Beschränkungen werden vom Präsidenten selbst und nur von ihm allein festgelegt", so Biden. Mehr als zweihundert Jahre nach Gründung dieser Demokratie würde es wie in Monarchien ab sofort wieder davon abhängen, was für einen Charakter ein Herrscher habe. Biden warnte damit vor nicht weniger als dem Ende der Gewaltenteilung. Der ohnmächtigste Mann der Welt In den Worten des amtierenden Präsidenten steckte allerdings auch viel Ohnmacht. Denn eine Lösung dieses gravierenden Verfassungsproblems konnte er nicht präsentieren. So mächtig auch Joe Biden qua Urteil des Supreme Courts seit heute ist, so machtlos scheint er zugleich. Zynisch wurde heute in Washington gewitzelt, als "offizielle Amtshandlung" könne Joe Biden jetzt etwa die Richter des Supreme Courts rausschmeißen und sodann ihre Entscheidung mit Neubesetzungen rückgängig machen. Dazu müsste er zwar das Gesetz brechen, er müsste aber dank der nun frisch verliehenen Amts-Immunität keine Konsequenzen fürchten. Natürlich kann Joe Biden das nicht. Zumindest müsste er dann genau das tun, wovor er eindringlich warnt. Er müsste sich zum Autokraten aufschwingen, um einen Autokraten zu verhindern: Donald Trump. Angesichts dieses offenkundigen Dilemmas blieb dem jetzt eigentlich noch mächtigeren mächtigsten Mann der Welt also nichts anderes übrig, als an das eigene Volk und an dessen Demokratieverständnis zu appellieren. "Das amerikanische Volk muss entscheiden, ob Donald Trumps Angriff auf unsere Demokratie am 6. Januar ihn für das höchste öffentliche Amt des Landes ungeeignet macht", sagte Biden. Das amerikanische Volk müsse nicht nur entscheiden, ob Trumps Gewaltbereitschaft zur Wahrung seiner Macht akzeptabel sei. Sondern auch, ob es Donald Trump erneut das Präsidentenamt anvertrauen wolle. Bidens Abkehr von der politischen Nichteinmischung Seine Kritik an der Entscheidung der Richter am Supreme Court wurde damit zugleich zu einem Wahlkampfauftritt. Angesicht der gründlich verhunzten Fernsehdebatte vergangenen Donnerstag war seine Alarm-Rede im Weißen Haus natürlich auch ein willkommener Anlass, um gegen seinen politischen Gegner auszuteilen. Deutlich wie noch nie sagte Biden, dass Donald Trump den gewaltsamen Mob am 6. Januar 2021 zum Kapitol geschickt habe, "um den friedlichen Machtübergang zu verhindern". Dafür drohe seinem Amtsvorgänger jetzt die mögliche strafrechtliche Verurteilung. Das amerikanische Volk habe darum ein Recht darauf, "noch vor den Wahlen" im Herbst die Antwort der Gerichte darauf zu erfahren. Eine solche Einmischung in das laufende Strafverfahren gegen seinen politischen Gegner, war bislang noch nie vom amtierenden Präsidenten zu hören. Aus gutem Grund hielt sich das Weiße Haus selbst mit Beurteilungen und jeglichen Kommentierungen der Prozesse gegen Donald Trump zurück. Um jeden Preis sollte der Eindruck vermieden werden, der Präsident versuche die Gerichte zu beeinflussen. Die Zeiten sind ernst, die Schwächen offensichtlich Von dieser Strategie scheinen die Berater des US-Präsidenten nun abgekommen zu sein. Man nimmt damit in Kauf, eben jenen Vorwurf von Trump und den Republikanern zu bedienen, die sie unablässig gegen Biden erheben: dass die Prozesse gegen Trump politisch motiviert seien. Auch das ein Dilemma für die Demokraten. Was dazu geführt haben mag? Es sind ernste Zeiten in diesem Jahrhundert-Wahlkampf. Die Schwächen des eigenen Kandidaten sind offensichtlich. Die Schwächen des veralteten Systems, mit einem Supreme Court der anfällig ist für politische Parteinahme, sind es auch. Womöglich sieht man darum im Weißen Haus inzwischen keinen anderen Ausweg mehr, um die Bevölkerung noch wachzurütteln. Normalerweise schließt der Präsident seine Reden mit den Worten: "Möge Gott Amerika segnen und unsere Streitkräfte beschützen". Heute fügte Joe Biden eine weitere Formel hinzu. Er sagte: "May God help us to save our democracy". Möge Gott uns dabei helfen, unsere Demokratie zu retten. Es klang dramatisch. So als würde jetzt nur noch beten helfen.