In Hamburg machen die türkischen Fans stimmungstechnisch dort weiter, wo sie in Dortmund aufgehört haben. Spätestens jetzt ist klar: Die EM in Deutschland ist auch ihr Heimturnier. Aus Hamburg berichtet William Laing Zweimal war Dortmund in den vergangenen Tagen das emotionale Epizentrum der türkischen Community in Deutschland. Am Mittwochabend verlagerte sich dieses aber ein gutes Stück weiter in den Norden der Republik. Denn nach zwei EM-Gruppenspielen im Stadion vom BVB fand die letzte Vorrundenpartie der türkischen Nationalmannschaft in Hamburg statt. Hier gelang dem Team etwas, was ihm seit 16 Jahren nicht mehr gelungen war und was die eigenen Anhänger auf dem ganzen Kontinent in kollektive Ekstase versetzt haben dürfte. Die Türkei hat sich für die K.-o.-Phase der Europameisterschaft qualifiziert. Mit Glück, mag der ein oder andere nach dem 2:1-Sieg gegen Tschechien sagen, bei dem Torjäger Cenk Tosun den Siegtreffer in der Nachspielzeit erzielte. Mit Willensstärke und einer grundsoliden Leistung, werden andere behaupten. Die Wahrheit, sie liegt wohl irgendwo in der Mitte und zu einem Großteil sowieso nicht auf dem Platz. Denn die größte Trumpfkarte der Türken findet sich bei dieser EM auf den Tribünen der Arenen wieder. Dort sitzen sie, die eigenen Fans, die auch das Hamburger Volksparkstadion in einen völligen Ausnahmezustand versetzten, der einem noch Stunden später die Ohren klingeln ließ. Die tumultartigen Jubelszenen in der Nachspielzeit, sie gehören definitiv zu den Bildern, die ein Turnier auch in der Nachbetrachtung prägen können. Genauso wie die, die sich nach der Partie vor dem Stadion abspielten und verdeutlichten, was für eine Bedeutung dieses Turnier und das ganze Drumherum für die Türken in Deutschland hat. "Da kommen mir die Tränen" Hunderte Fans hockten nämlich um kurz vor Mitternacht noch zwischen Volksparkstadion und der gegenüberliegenden Barclays Arena. Sie alle lauschten einem Mann, der oberkörperfrei auf einer Anhöhe stand und die Menge vor ihm wild gestikulierend einheizte, bis diese dann jubelnd aufsprang und mit wehenden Flaggen "Türkiye"-Rufe in den Hamburger Nachthimmel brüllte. Der Name des Anpeitschers: Tayipp Demir. "Ich sterbe für mein Land, für die Fahne", sagt der 25-Jährige aus Münster kurze Zeit später zu t-online. "Wenn ich sehe, wie viele Türken hier gemeinsam feiern, wie stolz wir sind, wie glücklich wir sind ... Da kommen mir die Tränen", so Demir. Er wolle den Deutschen auch nicht zu nahe treten, aber "das ist eine Heim-EM". Was Demir meint: Das Turnier ist mehr ein Heimturnier für die Türken als für Deutschland selbst. Das sehe man an den Zuschauerzahlen und auf den Straßen. "Die Türken, egal, von wo sie kommen: Sie kommen und unterstützen das Land, egal, wo es ist", sagt Demir. "Wenn einer uns ruft, kommen alle." In Deutschland immer ein Heimspiel Man kann Demir angesichts der Szenen in Hamburg am Mittwoch kaum widersprechen. Schon beim größten von gleich drei Fanmärschen vor der Partie waren 18.000 türkische Anhänger vom Bahnhof Stellingen bis zum Stadion gepilgert, das sich dann mit Spielbeginn in einen der wohl unangenehmsten Hexenkessel verwandelte, in dem ein gegnerischer Fußballer antreten kann. Die Tschechen zumindest wurden in Hamburg von Sekunde eins an bei jeder Ballberührung mit einem gellenden Pfeifkonzert der türkischen Fans bedacht. Demirs Erklärung dazu: "Du schüchterst den Gegner ein." Eine simple wie effektive Maßnahme, die aber auch nur funktionieren kann, wenn das Kollektiv mitzieht. Das wiederum ist eine Frage, die sich bei den Türken offenbar gar nicht erst stellt, selbst wenn die einzelnen Fans im Alltag vielleicht sogar Vereine unterstützen, die in erster Linie eine Rivalität verbindet. Demir ist beispielsweise Fan des türkischen Hauptstadtklubs Beşiktaş, der mit den anderen beiden Istanbuler Spitzenvereinen Fenerbahçe und Galatasaray verfeindet ist. Doch bei Türkei-Partien darf das laut ihm keine Rolle spielen. Dann ist Demir wie all seine Landsleute zuallererst Türke. "Sobald die Nationalmannschaft spielt, sind wir alle eins", sagt er und unterstreicht mit seinen Worten das türkische Gemeinschaftsgefühl, das er kurz zuvor auch als Anpeitscher in die Menge getragen hat und das an diesem Abend von den Tribünen im Volkspark bis auf das Spielfeld zu spüren gewesen sein muss. Auf den Rängen in Hamburg war es zumindest sichtbar omnipräsent. Nicht zuletzt, als ein Lichtermeer aus Handytaschenlampen türkischer Anhänger das Stadion erleuchtete und einmal mehr vermittelte: Egal, wo die Türkei in Deutschland antritt, sie ist, allein was die Fans vor Ort angeht, keine Minderheit. In und ums Stadion ist sie als Kollektiv so mächtig, dass in diesen Tagen folglich jede Partie auf deutschem Boden einem Heimspiel gleichkommt. Die Europameisterschaft 2024 , weit über 2.000 Kilometer von der Türkei entfernt, ist damit tatsächlich eine Heim-EM . Am Ende aber nicht nur für Deutschland.