Laut neuen Umfragen könnte ohne das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in Thüringen und Sachsen keine Mehrheitsregierung gebildet werden. In Erfurt lockt sogar die Staatskanzlei. Und die Linke? Ist offenbar draußen.
Anfang Juni in Erfurt. Um die 40 Menschen sind in einem riesigen Saal damit beschäftigt, die Landesliste des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) für die Thüringer Landtagswahl am 1. September zu wählen. Auch die namensgebende Parteivorsitzende ist angereist. Wagenknecht steht geduldig vor den Kameras, gibt ein Interview nach dem anderen. Ihr Lächeln sitzt ebenso wie der lindgrüne Blazer.
Nur auf eine Frage scheint sie nicht vorbereitet zu sein: Würde sie, falls das BSW als größte Partei in eine Koalition ginge, als Ministerpräsidentin kandidieren? Schließlich müsse sie dafür kein Landtagsmitglied sein.
Wagenknecht schaut kurz irritiert, sortiert sich aber schnell. "Wir werden diese Frage besprechen", sagt sie. "Aber wir haben ja mit Katja Wolf eine sehr erfahrene Spitzenkandidatin, die auch wirklich administrative Erfahrungen hat, anders als Herr Voigt übrigens. Und ich glaube, dass sie sehr geeignet wäre für dieses Amt."
Die Antwort lässt alles offen.
Keine drei Wochen später wirkt das Szenario einer BSW-Ministerpräsidentin beinahe realistisch. Laut einer neuen Umfrage im Auftrag des MDR konkurriert die einstige Eisenacher Linke-Oberbürgermeisterin Katja Wolf, die Wagenknechts Partei in den Landtagswahlkampf führt, mit CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt um die Staatskanzlei – in der mit Bodo Ramelow noch der einzige Linke-Ministerpräsident der Bundesrepublik sitzt.
Die repräsentative Erhebung von infratest-dimap, in der die AfD bei 28 Prozent liegt, sieht die CDU bei 23 Prozent und das BSW bei 21 Prozent – und damit auf Augenhöhe. Derweil ist die Linke auf 10 Prozent abgestürzt.
Auch wenn sich die Zahlen nicht einfach so übereinander legen lassen: Von den 31 Prozent, die Ramelows Linke bei der Landtagswahl 2019 erreichte, hat Wagenknecht anscheinend zwei Drittel zu sich geholt. Dass der einzige linke Ministerpräsident mit 47 Prozent Zustimmung noch immer mit großem Abstand der beliebteste Politiker im Land ist, nützt der Partei wenig.
Woran liegt das? Warum wechseln so viele Linke-Wähler, obwohl das BSW mit seinem Friedens- und Antimigrationspopulismus eher AfD-Wählern inhaltlich Angebote macht? Zum einen dürfte es damit zu tun haben, dass Wagenknecht bis Ende vergangenen Jahres das bekannteste Mitglied der Linkspartei war und nicht wenige prominente andere Mitglieder mitnahm. Zum anderen kann sie ungehemmt die alten Protestinstinkte bedienen, mit denen die PDS einst groß wurde, bis sie in Regierungen Realpolitik betreiben musste.
Und: Im Gegensatz zu ihrer früheren Partei stellt Wagenknecht inzwischen eine echte Machtoption dar. Denn selbst wenn Ramelow mit 10 Prozent aktuell unterbewertet erscheint: Er kann damit schwerlich den Anspruch auf die künftige Regierungsführerschaft übernehmen, zumal die Partner seiner Minderheitskoalition um ihre parlamentarische Existenz kämpfen. Die SPD befindet sich mit 7 Prozent noch knapp über der 5-Prozent-Hürde, die Grünen sind mit 4 Prozent bereits darunter gerutscht.
Natürlich, es ist nur eine Umfrage; ein großer Teil der Wählerinnen und Wähler hat sich längst nicht entschieden. Darüber hinaus existiert das BSW erst fünf Monate und hat bundesweit nur ein paar hundert Mitglieder aufgenommen. Auch ein Programm existiert bloß in ersten Ansätzen. Nicht nur die politische Konkurrenz spricht von einer Gespensterpartei, die vor allem von den Medien aufgeblasen werde.
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Doch mittlerweile gab es die ersten Wahlen und deren Resultate fielen deutlich genug aus. In Thüringen etwa erreichte die Wagenknecht-Partei bei der Europawahl aus dem Stand 15 Prozent, während die Linke auf 5,7 Prozent zusammenschrumpfte. Auch bei den Kommunalwahlen erzielte die das BSW dort, wo es antrat, zumeist zweistellige Ergebnisse.
Zudem zeigt die Auswertung der Wählerwanderung, dass das Bündnis im Ostdeutschland vor allem auf Kosten der Linken gewinnt. Bundesweit zog Wagenknecht eine knappe halbe Million Wähler von ihrer alten Partei ab.
Ähnlich sieht es in den anderen ostdeutschen Ländern aus – zum Beispiel in Sachsen, wo ebenfalls am 1. September das Parlament gewählt wird. Eine diese Woche veröffentliche Landtagswahlumfrage des Insa-Instituts im Auftrag der drei großen sächsischen Regionalzeitungen verortet das BSW bei 15 Prozent, während die CDU von Ministerpräsident Michael Kretschmer knapp hinter der AfD auf 30 Prozent kommt.
Da die Koalitionsparteien SPD und Grüne bei 5 Prozent liegen und die FDP mit 2 Prozent kaum noch messbar ist, gilt für Kretschmer in Dresden dasselbe wie für Voigt in Erfurt: Er wird im Herbst das BSW brauchen, um eine Landesregierung bilden zu können. Und die sächsische Linke? Wäre mit 4 Prozent nicht mehr im Landtag.
Wenigstens stellt sich für Kretschmer die Ministerpräsidentenfrage nicht. Anders in Thüringen: Falls die Union am Ende vorne bliebe, wäre die Antwort vergleichsweise einfach. Die künftige Wolf-Fraktion scheint bereit, Voigt an die Spitze der Regierung wählen.
Umgekehrt wirkt dies jedoch absolut undenkbar. Auch wenn CDU-Bundeschef Friedrich Merz zuletzt seine grundsätzliche Absage an das BSW für die Länderebene wieder etwas relativierte: Allein die Vorstellung einer Ministerpräsidentin Wolf oder gar Wagenknecht dürfte die Union mindestens so wie die Ramelow-Frage vor knapp fünf Jahren zerreißen.
Die einzige Lösung wäre dann ein parteiloser Kompromisskandidat, der eine BSW-CDU-Regierung anführte. Oder? Katja Wolf will sich auf Anfrage des stern "nicht zu Spekulationen" äußern. Stattdessen sagt sie: "Wir kämpfen für Veränderungen, nicht um Positionen."
Auch diese Antwort lässt alles offen.