In einem bayerischen Dorf entlädt sich der allgemeine Frust an einem Containerdorf für Flüchtlinge. Bürgermeister und Landrat werden bedroht. Wie konnte die Stimmung so kippen?
Bayern wie im Bilderbuch – so wirbt der oberbayerische Ort Warngau für sich. Blick auf die Alpen, sanfte Wiesen und gepflegte Einfamilienhäuser, alles wie gemalt. Doch wenn Bürgermeister Klaus Thurnhuber aus dem Fenster seines Rathauses schaut, hat er hässliche Bilder im Kopf. Die Biertrinker am Stammtisch streiten, der Landrat wurde aus dem Dorf gejagt, und er selbst bekommt nachts SMS: "Verschwinde mit deiner Familie besser aus der Gemeinde", steht da.
In dem 3900-Einwohner-Ort entlädt sich gerade der Frust der Leute über eine Flüchtlingsunterkunft – und selbst das Gemeindeoberhaupt versteht nicht, wie die Stimmung derartig kippen konnte.
Dabei kennt Thurnhuber, 60, seine Warngauer wie kein anderer: Seit 15 Jahren ist er ihr Bürgermeister, davor saß er im Gemeinderat. Doch seit Ende letzten Jahres die Pläne des Landratsamts publik geworden sind, kommt ihm seine Gemeinde fremd vor: Der Landkreis will 500 Flüchtlinge in einem Containerdorf außerhalb des Orts unterbringen. Das Vorhaben löste im beschaulichen Warngau ein gesellschaftliches Erdbeben aus. Schnell formierte sich Widerstand: Gegner starteten eine Online-Petition und sammelten tausende Unterschriften. Man hängte Plakate mit einem überfüllten Flüchtlingsboot auf, das ein Warngauer Ortsschild durchbricht. "Es reicht endgültig!", steht auf einem.
Darüber entbrennt Mitte Februar am örtlichen Stammtisch ein lautstarker Streit. Die meisten hier sind sicher, dass mit den Flüchtlingen Ärger kommt. "Da kann man gleich die Polizeistation rausbauen", sagt einer. "Wir kennen uns seit 40 Jahren, und jetzt fangen wir's Streiten an", sagt ein anderer Gast zur Wirtin. Die Gegner der Unterkunft wurden als Nazis beschimpft, die Argumente der Unterstützer gar nicht erst gehört.
Wie viele Menschen ins Land kommen, das entscheide doch nicht ich
"Woher kommt bloß dieser Hass?", fragt Bürgermeister Thurnhuber. Die Auseinandersetzungen der vergangenen Monate und die Beschimpfungen auf seiner Privatnummer haben Spuren hinterlassen: Thurnhuber wirkt verloren an seinem Schreibtisch. Will er so als Bürgermeister weiterarbeiten? Er weiß es nicht.
"Die allgemeine Unzufriedenheit der Leute hat sich bei dem Thema total entladen", sagt er. "Dabei kann ich als Kommunalpolitiker gar nichts machen. Wie viele Menschen ins Land kommen, entscheide doch nicht ich." Verantwortlich seien die Politiker in Berlin und Brüssel, er stehe an vorderster Front, um deren Versäumnisse auszubaden. Er war von Anfang an gegen das Containerdorf. "Ich habe gleich gesagt: Das werden wir nicht schaffen." Die Gemeinde sei dazu nicht in der Lage, allein schon wegen fehlender Kita- und Schulplätze. Das Landratsamt in Miesbach arbeitet dennoch mit Hochdruck an den problembeladenen Plänen – um ein weiteres Problem zu lösen: drei überfüllte Turnhallen.
Denn seit mehr als zwei Jahren sind in den Sporthallen in Miesbach und Tegernsee Flüchtlinge untergebracht, insgesamt rund 600 Menschen; mehr als 80 Prozent sind Männer. Etwa jede zweite Woche werden dem Landkreis 50 weitere Menschen zugewiesen. Die Verwaltung ist überfordert, weil sie keine Unterkünfte für die Neuankömmlinge findet. Insgesamt leben bereits 2100 Asylbewerber im Landkreis.
Hunderte von ihnen müssen in den menschenunwürdigen Schlafplätzen in den Turnhallen ausharren, während direkt nebenan am Ufer des Tegernsees die Drittwohnsitze der Milliardäre leer stehen. Die Sporthallen sind in Parzellen mit Stockbetten unterteilt, die lediglich durch Plastikplanen voneinander getrennt sind. Die Deckenleuchten brennen auch nachts; türkische Flüchtlinge schildern Schlägereien zwischen verschiedenen Volksgruppen. Dorfarzt Winfried Dresel, der die Menschen in der Umkleide in einer der Hallen behandelt, berichtet von psychischen Problemen und Suizidgedanken. "Es ist dort unerträglich", sagt er, "viele kommen mit der Bitte um Verlegung auf mich zu."
In den Turnhallen kann seit Monaten kein Sport stattfinden; kein Volleyball, kein Schulsport am Gymnasium, kein Kinderturnen. Alle sind frustriert. Die Menschen sollen da endlich raus. Aber wohin? Landrat Olaf von Löwis (CSU) steht deshalb mächtig unter Druck. "Wir finden einfach keine Wohnungen oder Flächen. Wir haben nichts", sagt von Löwis, 69, Forstwirt. Im Landkreis gebe es keine alte Kaserne oder freie Grundstücke. Seine Verwaltung nahm deshalb im Herbst alle Flächen unter die Lupe, dabei fiel der Behörde ein Areal ins Auge: die grüne Wiese neben einem Wertstoffhof in Warngau.
Sie gehört dem Landkreis und ist groß genug für ein Containerdorf. Im Sommer stinkt es wegen der Müllverwertung nebenan, außerdem ist die Fläche weit weg vom nächsten Ort; nicht ideal, das weiß auch von Löwis. "Wir haben keine Wahl. Es ist die einzig zur Verfügung stehende Möglichkeit." Der Bau der Unterkunft ist beschlossene Sache, die Vorbereitungen laufen.
Auch im Rest der Republik sind überfüllte Turnhallen längst wieder Realität, ob im Münsterland, in Thüringen oder in Lübeck. Die Berichte von dort erinnern an die Krisenjahre 2015 und 2016, als rund 1,4 Millionen Menschen nach Deutschland flüchteten. Seit einigen Jahren steigt die Zahl der ankommenden Asylsuchenden wieder deutlich an, 2023 stellten knapp 330.000 Menschen einen Erstantrag. Von Januar bis März registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rund 65.500 Neuanträge – das ist rund ein Viertel weniger als 2023, aber nach wie vor eine hohe Zahl.
Die Asylbewerber werden auf die Bundesländer und in Bayern auf die Regierungsbezirke verteilt. Diese weisen die geflüchteten Menschen den Landkreisen zu. Die Landratsämter sind das letzte Glied in der staatlichen Kette – und die Behördenchefs sind an die Weisungen von oben gebunden. Einmal hat Landrat von Löwis einen Bus mit Flüchtlingen zurück an die Aufnahmeeinrichtung in München geschickt, erzählt er. Kurz darauf sei der Bus einfach wieder in Miesbach vorgerollt. Wie er es auch macht, landet das Problem am Ende doch immer bei ihm, so sieht er das.
Die Landräte sind nur die Überbringer der schlechten Nachrichten – trotzdem bekommen sie und die Bürgermeister den Zorn der Einwohner am meisten zu spüren. Das mecklenburgische Dorf Upahl und Landrat Tino Schomann (CDU) zum Beispiel wurden im vergangenen Jahr bekannt, als es bei einem Protest gegen eine geplante Asylunterkunft zu Tumulten während der Kreistagssitzung kam. In Markt Schwaben östlich von München wurde der parteilose Bürgermeister Michael Stolze mit Hass überzogen, weil er sich für die Unterbringung von 120 Flüchtlingen eingesetzt hatte. Jeglicher Anstand ginge verloren, sagte Stolze bei seinem Rücktritt.
Eine Umfrage des Bundeskriminalamts unter Bürgermeistern und Landräten ergab: Allein von Mai bis Oktober vergangenen Jahres wurden 38 Prozent der Befragten von Bürgern angefeindet; im Schnitt erhielten sie ein bis zwei Hasspostings im Monat in den Sozialen Medien, zwei Prozent der Betroffenen wurden sogar körperlich angegriffen. Die Wut macht auch vor Flüchtlingen nicht halt: Knapp 2400 politisch motivierte Angriffe registrierte die Polizei im vergangenen Jahr. Fast doppelt so viele wie 2022.
Die Ampelregierung reagiert auf die hohe Zuwanderung mit verstärkten Grenzkontrollen, man hat sich auch auf die Einführung einer Bezahlkarte für Asylbewerber geeinigt. Zudem wurde ein Gesetz verabschiedet, das Abschiebungen in die Herkunftsländer erleichtern soll. Jüngst meldete ein thüringischer CDU-Landrat, er würde Asylbewerber zu gemeinnütziger Arbeit verpflichten. Doch vielen gehen die Maßnahmen nicht weit genug, die Rufe nach einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen werden lauter.
Vielerorts brodelt die Stimmung – in Warngau ist sie kürzlich bei einer Bürgerversammlung übergekocht. 400 Menschen quetschten sich ins örtliche Wirtshaus, weitere 500 standen vor der Tür und pusteten in vorher verteilte Pfeifen; organisiert wurde der Protest in mehreren WhatsApp-Gruppen. Bürgermeister Thurnhuber und Landrat von Löwis stellten sich den Fragen, aber für eine sachliche Diskussion war die Stimmung zu aufgeheizt. Ein Mitschnitt der Versammlung, der im Internet kursiert, macht die Atmosphäre des Abends deutlich: Da werden Erklärungsversuche des Landrats weggegrölt und jede Kritik an ihm lautstark bejubelt. Ein Autohändler hat Angst um seine teuren Sportwagen. "Wenn so ein Fahrzeug draußen steht, was ist, wenn es Beschädigungen gibt? Man will keinem etwas unterstellen, aber wer haftet hier?" Ob es Schließzeiten gebe, wird gefragt, oder ob die Bewohner die Anlage "nach freier Entscheidung" verlassen dürften. Eine Anwohnerin will ihre Kinder nicht mehr mit dem Bus fahren lassen – wegen vermeintlicher Infektionskrankheiten der Flüchtlinge. "Wenn ich nicht weiß, welche Krankheiten kursieren, dann setzt doch keiner mehr sein Kind da rein", sagt sie.
Manche Sorgen hingegen sind berechtigt. "Unsere Kinder haben unter Corona gelitten ohne Ende", sagt einer, der jetzt wieder überfüllte Schulklassen befürchtet. "Jetzt noch so eine Geschichte, das funktioniert nicht."
Ebenfalls im Saal: der ortsfremde AfD-Landtagsabgeordnete Andreas Winhart aus Rosenheim. Winhart wurde 2019 Rassismus vorgeworfen, nachdem er bei einer Veranstaltung schwarze Asylbewerber mit dem N-Wort bezeichnet hatte. In Warngau erklärt er an die Zuhörer gewandt, wie man mit einer Veränderungssperre für die Flächennutzung die Unterkunft verhindern könne. "Einen konstruktiven Beitrag" nennt er das und erntet viel Applaus. Von der Bürgerversammlung postete Winhart Fotos von sich auf X. "Afd wirkt" schrieb er darüber.
Migrationsdebatten vor Ort anheizen, das ist eine Strategie der AfD landesweit. Im Dezember zog ein Autokorso gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft durchs thüringe Gera, gespeist wurde er aus dem AfD-Spektrum, berichtete der MDR. In Salem am Bodensee stellte die Partei einen Protestzug auf, um gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in einem ehemaligen Supermarkt zu demonstrieren. Die Gegner marschierten auch zur Firma des Vermieters.
Der Taktik hatten die Hausherren bei der Bürgerversammlung in Warngau wenig entgegenzusetzen: Der Bürgermeister stand überfordert neben dem Landrat, der teils gereizt auf die Redebeiträge reagierte. Man spürt, dass von Löwis die Bindung zu seinen Wählern verloren hat. Bei der Kommunalwahl vor vier Jahren hatten ihn die Warngauer in einer Stichwahl noch mit 72 Prozent zu ihrem Landrat gewählt. Nun behandeln sie ihn wie einen Ausgestoßenen.
Da habe ich echt Schiss bekommen.
Am Ende lief die Versammlung völlig aus dem Ruder: Der Landrat musste unter Polizeischutz aus dem Wirtshaus gebracht werden – durch den Hinterausgang einer Toilette. Sein Fahrer konnte ihn wegen des Protests vor der Gaststätte nicht aufsammeln, also stieg er mit den Polizisten in den Streifenwagen. "Die Leute haben das gemerkt und sind auf uns zugestürmt, sogar Traktoren sind auf uns zugerollt. Da habe ich echt Schiss bekommen", erzählt von Löwis später. Gegen zwei Traktorfahrer ermittelt die Staatsanwaltschaft München wegen Nötigung, sie sollen das Polizeiauto eingekeilt haben.
Es ist etwas in Bewegung geraten in einem Land, das in den vergangenen Jahren viel auszuhalten hatte. Der Ausbruch des Streits um das Asylheim in Warngau fiel in die Zeit der Bauernproteste. Die Landwirte hatten gegen geplante Subventionskürzungen demonstriert, worauf die Bundesregierung die Streichung der Kfz-Steuerbefreiung zurücknahm. "Die Gegner der Flüchtlingsunterkunft haben gesehen, dass sich Protestieren lohnt", sagt Landrat von Löwis. "Je lauter, desto besser."
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagte in einem Interview mit dem "Handelsblatt", dass das "Deutschlandgefühl" nicht mehr stimme. Die schlechte Laune im Land führte er auf die schrumpfende Wirtschaft und Abstiegsängste zurück. Schuld daran sei die Ampelregierung. Ihre Umfragewerte liegen seit Monaten im Keller; im aktuellen Politbarometer von April bewerteten 65 Prozent der Befragten die Arbeit der Ampel als schlecht. Kanzler Scholz steckt in einem Rekordtief.
Interview_Herrgott Landkreis Saale-Orla9.52
Zeitenwende, Energiewende, Wende im Deutschlandgefühl: weniger sicher, weniger geordnet und weniger wohlhabend. Für Menschen wie Monika Gschwendtner gehen diese Entwicklungen zu schnell.
"Es ist einfach zu viel, was die uns zumuten", sagt die Warngauerin, "die Regierung fährt uns total gegen die Wand." Die Milchbäuerin steht in der Frühlingssonne vor ihrem Stall, der nur einige hundert Meter entfernt ist von der geplanten Flüchtlingsunterkunft, gegen die sie sich so vehement wehrt. Die Energiewende, der Unmut in der Landwirtschaft und jetzt noch 500 Flüchtlinge, die in ihre Nachbarschaft ziehen – das habe das Fass zum Überlaufen gebracht, sagt Gschwendtner, 48. Die Landwirtin hat den Protest gegen das Containerdorf angeführt, mit anderen die Online-Petition initiiert und die umstrittenen Plakate aufgestellt. Sie sprach auch auf der Bürgerversammlung. "Wir werden das Auffanglager vom ganzen Landkreis", sagt sie. Mit den vielen geflüchteten Männern nebenan würden sie und ihre Tochter sich nicht mehr sicher fühlen. "Mein Dirndl ist hier oft mit dem Pferd unterwegs. Ich habe ihr schon gesagt: Du bist hier nicht mehr sicher." Und das Heim neben die Abfallverwertung zu bauen, halte sie für unmenschlich, weil es schon früh morgens mit dem Lärm der Maschinen und Lastwagen losgehe.
Dass ihre Plakate die Stimmung in Warngau aufheizen, denkt sie nicht. Viel mehr ärgert sie sich über die Schmierereien auf den Bannern. Neben ihr steht ihr Mann Klaus mit grimmiger Miene: Er habe genug davon, dass so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen: "Seit zehn Jahren kriegen die ihre Politik nicht in den Griff."
Die, das ist die große Politik in Berlin und Brüssel. Aber auch das Vertrauen in die Lokalpolitiker haben die Gschwendtners verloren. "Ich habe denen immer meine Stimme gegeben. Aber die wähle ich nicht mehr", sagt die Bäuerin. Und für den CSU-Wähler Gschwendtner gibt es eigentlich nur eine Partei, die man noch wählen kann: die AfD.