Schaden Pubertätsblocker mehr als das sie nutzen? Eine neue Leitlinie soll endlich Klarheit schaffen. Experten und Fachgesellschaften sprechen sich auch nach dem Aus in England für den Einsatz der Medikamente aus. Das sind ihre Argumente.
Was hilft Jugendlichen, die überzeugt sind, mit dem falschen Geschlecht geboren worden zu sein? Was können Ärzte, Therapeuten und Eltern tun, um diese jungen Menschen bestmöglich zu unterstützen? Eine neue Leitlinie soll in diesen Fragen nun für Klarheit sorgen.
Der Bedarf für Hilfe jedenfalls ist offensichtlich: "Wir wissen, dass diese Kinder und Jugendlichen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von depressiven Erkrankungen haben, von Angststörungen, von selbstverletzendem und suizidalem Verhalten", sagt Sabine Maur, psychologische Psychotherapeutin und Vizepräsidentin der Bundestherapeutenkammer. Maurer ist Mitautorin der neuen Leitlinie für die Länder Deutschland, Österreich und Schweiz, die von Experten und Expertinnen aus 27 Fachgesellschaften und zwei Verbänden entwickelt wurde.
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"Wir haben aber bisher keine fachlich gesetzten Standards gehabt, wie eine solche Versorgung aussehen soll, sowohl inhaltlich als auch formal. Und deshalb ist es unbedingt wichtig, auch zum Patient*innenschutz eine solche Leitlinie zu haben", so Maur.
Sieben Jahre haben sie daran gearbeitet. Studien gewälzt, diskutiert, abgewogen. Seit Anfang der Woche steht sie den Fachgesellschaften zur Kommentierung bereit. Weil sich dabei Formulierungen noch ändern können, ist sie öffentlich noch nicht einsehbar. "Die meisten Empfehlungen sind mit über 95-prozentigem Konsens getroffen worden", sagt Dagmar Pauli, stellvertretende Direktorin der Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich und selbst Autorin der S2K-Leitlinie, deren Empfehlungen auf dieser strukturierten Form der Konsensfindung beruhen.
Besonders ausführlich diskutiert wurde die heikle Frage nach Pubertätsblockern. Denn bislang ist die langfristige Sicherheit und Wirksamkeit der Therapie nur schlecht untersucht. Dem deutschen Science Media Center (SMC) standen einige der Experten nun Rede und Antwort.
Pubertätsblocker, das sind Medikamente, die ursprünglich vor allem Kindern verordnet wurden, deren Pubertät viel zu früh begann. Seit mehr als zwei Jahrzehnten können Ärzte mit diesen Mitteln jedoch auch außerhalb der Zulassung (off-label) Jugendliche behandeln, die darunter leiden, dass ihre Geschlechtsidentität von ihrem körperlichen Geschlecht abweicht. Experten nennen das auch Geschlechtsdysphorie. Die Medikamente verhindern, dass in den Hoden das männliche Hormon Testosteron oder in den Eierstöcken Östrogen produziert wird. Die Folge: Stimmbruch und Bartwuchs bleiben aus, die Brüste wachsen nicht. Kurz, die Pubertät wird wie mit einer Pausetaste aufgehalten. Ob die Pause sinnvoll ist, wird hierzulande nach sorgfältiger Abwägung von einem Behandlungsteam zusammen mit den Jugendlichen und ihren Eltern entschieden.
Sie soll "in dieser Lebenskrise zunächst einmal ein Aufatmen möglich machen und darüber hinaus dann auch eine Verständigung mit therapeutischer Hilfe darüber, was jetzt genau diese Krise ausmacht und wie man mit ihr angemessen umgehe", sagt Claudia Wiesemann, Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin am Uniklinikum Göttingen. Grundsätzlich ist die Behandlung reversibel. Brechen Jugendliche die Blockerbehandlung ab, durchlaufen sie die jeweils männliche oder weibliche Pubertät wie gehabt.
Stellt sich jedoch heraus, dass die Jugendlichen nicht mit den körperlichen Merkmalen ihres biologischen Geschlechts leben wollen, kann man mit der gezielten Gabe von Östrogen und Testosteron einen Brustansatz wachsen lassen oder Barthaare. Tatsächlich entscheiden sich die meisten Menschen für diesen Weg.
Der Gesundheitsdienst in England, der NHS, hatte die Verschreibung von Pubertätsblockern an Kinder kürzlich gestoppt. Dort sollen die Medikamente vorerst nur noch innerhalb von klinischen Studien ausgegeben werden. Schweden ist einen ähnlichen Weg gegangen. Begründet wurde das mit fehlenden Daten. Ganz falsch ist das nicht, tatsächlich ist die Evidenzlage, gerade was den Langzeitverlauf angeht, dünn. Auf der anderen Seite hat die Medizin über Jahrzehnte Erfahrung mit diesen Medikamenten gesammelt.
Das viel größere Problem scheint die Versorgungslage. Tatsächlich fehlt es In vielen Ländern an ausreichend Ressourcen, um die jungen Menschen zu unterstützen und zu begleiten. Das macht eine ausführliche Diagnostik, Psychotherapie und soziale Begleitung der Betroffenen schwer. In England wurde im Jahr 2022 die größte britische Genderklinik geschlossen, weil Kindern dort wohl ohne lange Untersuchungen durch Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen oder Aufklärung zu Nebenwirkungen Pubertätsblocker verabreicht wurden. Allein schon die langen Wartezeiten mache die Versorgung dort katastrophal, so Pauli. So würden Jugendliche "zum Teil drei Jahre auf einen Ersttermin warten."
Georg Romer, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Münster schrieb kürzlich in einer Stellungnahme für das Deutsche Ärzteblatt: "Aufgrund der extrem langen Wartezeiten sind viele Patienten bei Behandlungsbeginn bereits 16 Jahre und älter und somit in einem Alter, in dem der Nutzen einer Pubertätsblockade als minimal anzusehen ist."
Eine spätere andauernd schmerzhafte Stigmatisierung lässt sich zudem kaum noch verhindern, wenn biologische Jungen etwa einmal in den Stimmbruch gekommen sind. Auch das Abwarten hat also Nebenwirkungen.
"Wenn sich die Indikation für eine Pubertätsblockade stellt, dann ist es bei einer Person, die die Erfahrung macht, in ein völlig falsches Geschlecht hineingezwungen zu werden", sagt Claudia Wiesemann. Im besten Fall könnte sie oder er so eine reflektierte Entscheidung über die eigene Zukunft treffen.
"Das zu verweigern, prinzipiell zu verweigern, aus der Sorge heraus, dass diese Pubertätsblockade körperliche Nebenwirkungen machen könnte, das ist medizinisch und ethisch unangemessen", so Wiesemann. Im Vergleich zu der Krisensituation seien die Nebenwirkungen für die Betroffenen in aller Regel unerheblich.
Unerwünschte Folgen der Behandlung könnten zum Beispiel die Knochen betreffen. So gibt es Hinweise, dass die Mineralisation leiden kann. Ob das dazu führt, das diese Menschen als Erwachsene ein höheres Risiko für Knochenbrüche besitzen, wurde allerdings noch nicht gezeigt.
"Gleichzeitig haben wir sehr konkrete Hinweise, dass die Menschen sehr darunter leiden, wenn wir sie tatsächlich durch diese ungewollte Pubertät hindurch zwingen würden“, sagt Achim Wüsthof, Facharzt für Kinder und Jugendmedizin am Endokrinologikum Hamburg. Auch er gehört zu den Autoren der Leitlinie.
In welchen Fällen die Blocker sinnvoll sein können, wie Ärzte und Therapeuten vor- und Nachteile abwägen sollten und welchen Therapien den Jugendlichen noch helfen können, wird in wenigen Wochen in der S2K-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter nachzulesen sein.