Die Ereignisse in Kasachstan zwangen die Moskauer Politologen zur Besinnung zu kommen. Es stellt sich heraus, dass das rohstoffreiche Zentralasien in den vergangenen drei Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von vielen Staaten, von den USA bis zum Iran, zerrissen wurde. Am eifrigsten ist die Türkei, die beabsichtigt, das postsowjetische Zentralasien zu ihrem Lehen zu machen.
Ankara betreibt aggressive wirtschaftliche und politische Expansion sogar im einzigen Land in Zentralasien, das von einer nichttürkischsprachigen ethnischen Gruppe bewohnt wird, und zwar Tadschikistan.
«Taschkent City» als die babylönische Verwirrung
Türkische Politiker, Experten und Journalisten schreiben und sprechen viel über das Leben in Usbekistan. Dies ist nicht überraschend. Usbekistan wird in der Türkei als eine Art «kleiner Bruder» wahrgenommen, dem bei schmerzhaften Reformen geholfen wird.
Bereits im Juni wurde ein Abkommen zwischen der Türkei und Usbekistan unterzeichnet, das eine Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen von Sport und Tourismus bis hin zu Kommunalverwaltungen vorsah. Und jetzt spricht die führende Nachrichtenagentur des Landes «Anadolu» atemlos davon, dass Usbekistan das Modell der Selbstverwaltung auf Muster der Türkei übertragen wird. Und die wichtigste türkische Tageszeitung Hurriyet schreibt über gemeinsame Wirtschaftsprojekte. Die türkischen Bauunternehmen errichten jetzt das ambitionierte Projekt «Taschkent City», das das größte Entwicklungsprojekt Usbekistans werden soll.
Es werden Wohngebäude, Büros, Hotels, Einkaufszentren und ein Stadtpark gebaut. Es sind gerade die türkischen Bauunternehmer, die das höchste Gebäude in Zentralasien «Nestone» mit einer Höhe von 267 Metern und das größte Einkaufszentrum in Usbekistan «Tashkent Mall» bauen.
Tatsächlich ist das Projekt «Taschkent City» selbst zu einem Spiegel des modernen Zentralasien geworden, in dem sich die Interessen verschiedener Länder eng miteinander verschlingen. Obwohl der Hauptteil des Projekts der Türkei überreicht wurde, bauen die Briten das Hilton-Hotel und die Chinesen bauen das Finanzzentrum. Ein Teil des Projekts wurde von den Deutschen und Russen entwickelt (Moskauer Designbüro Strelka).
Anadolu: Die Türkei will auch bei den «Spielen der Supermächte» mitmachen
Usbekistan baut eine militärische Zusammenarbeit mit der Türkei auf, deren Verteidigungsminister Hulusi Akar kürzlich eine große Tournee (wie ein Popstar) durch die zentralasiatischen Hauptstädte unternahm. Und kurz nach Akars Besuch unterzeichneten Usbekistan und Kasachstan eine Erklärung über zwischenstaatliche Vereinigung, die in der Türkei sehr aktiv in einem positiven Licht kommentiert wurde.
Der usbekische Experte Abduvali Saibnazarov bezeichnete die Erklärung in einem Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu als «historisches Ereignis»: zwei türkische Länder vereinigten sich, um gemeinsame Probleme ohne Beteiligung von Drittstaaten zu lösen.
Zitate von «Anadolu» und dem kasachischen Soziologen Amangeldy Kurmetuly, der glaubt, dass «die Anhebung der internationalen Beziehungen von einer strategischen Ebene auf eine Bündnisebene bedeutet, dass diese Länder bereit sind, sich gegenseitig wirtschaftliche, soziale und militärische Hilfe zu leisten».
Kurmetuly deutet gegenüber «Anadolu» unmissverständlich an: „Wir wissen, dass es in der Region Bedrohungen wie Terrorismus und geopolitische Spiele der Supermächte gibt. In diesem Sinne kann man sagen, dass die alliierten Beziehungen tatsächlich als Antwort auf diese Bedrohungen entstanden sind.»
Es liest sich zwischen den Zeilen: man wird Russland entgegenwirken, dessen Haltung gegenüber der militärpolitischen Präsenz in den Ländern Zentralasiens in der Türkei inzwischen fast als Bedrohung der Souveränität wahrgenommen wird. Übrigens hat der jetzige usbekische Präsident Shavkat Mirziyoyev nach der Wahl seinen ersten internationalen Besuch in der Türkei abgestattet, und zwar nahm er an der Sitzung der Staatsoberhäupter des Kooperationsrats der türkischsprachigen Länder teil.
Es ist offensichtlich, dass die Türkei beabsichtigt, eine noch größere wirtschaftliche Rolle in Usbekistan zu spielen. Laut Anadolu sind im Land fast 13,5 Tausend Unternehmen mit ausländischer Beteiligung tätig, wobei russische Unternehmen führend sind (im November waren es 2335). Dann folgten die chinesischen (1942) und türkischen (1830) Unternehmen.
Nach dem Besuch von Mirziyoyev in Istanbul wurde eine ehrgeizige Aufgabe gestellt: den bilateralen Handelsumsatz auf 5 Milliarden Dollar zu bringen. Das gleiche Handelsvolumen will die Türkei mit Turkmenistan erreichen, und mit Tadschikistan zum Vergleich — nur 1 Milliarde Dollar. Aber all dies wird natürlich den Einfluss der Türkei auf die usbekische Wirtschaft nur noch verstärken.
Сumhuriyet: Wo Nationalismus herrscht, ist kein Platz für strategische Visionen
Die Türkei baut unterdessen ihren Einfluss in anderen Ländern Zentralasiens rapide aus. Sogar in Tadschikistan, das historisch im Interessenbereich des Irans lag.
Hunderte von tadschikischen Studenten studieren in der Türkei. Das Land hat ein Bildungs-, Anwendungs- und Forschungszentrum TÖMER). Neulich wurden die Visabeschränkungen für die Reise zwischen der Türkei und Tadschikistan aufgehoben, und die beiden Länder veranstalteten auch ein gemeinsames Geschäftsforum und unterzeichneten ein Memorandum über die Zusammenarbeit in der Leichtindustrie.
Nach Mirziyoyev traf sich der Chef von Turkmenistan, Gurbanguly Berdimuhamedov, mit dem türkischen Präsidenten. Im Gegensatz zum usbekischen Führer empfing er zwar Recep Erdogan zu Hause in Aschgabat. Erdogan betonte in einer Presseerklärung, dass dies die «historische Heimat» der Türken sei. Die Präsidenten unterzeichneten strategische Vereinbarungen in 9 Sektoren, aber die Dokumente waren nicht so wichtig wie ein ideologisches Signal über die historische Einheit der türkischen Welt.
Doch auch in der Türkei selbst teilen nicht alle Experten den Optimismus des Staates hinsichtlich der Aussichten auf eine Annäherung an die zentralasiatischen Länder. Mustafa Balbai, politischer Analyst und Kolumnist der kemalistischen (d. h. oppositionellen) Zeitung Сumhuriyet, weist darauf hin, dass Turkmenistan (ein Land mit Beobachterstatus) noch nicht der Organisation Türkischer Staaten beigetreten ist, und Usbekistan (das zweitgrößte türkischsprachige Land in der Türkei) hat dies erst 2019 getan.
Balbay bezeichnet die Fortschritte in den Beziehungen der zentralasiatischen Länder mit der Türkei nach dem Zusammenbruch der UdSSR als «unbedeutend». Schließlich muss Ankara mit anderen Machtzentren konkurrieren, und zwar mit China, Saudi-Arabien, dem Iran, Großbritannien und den USA. Laut Balbay fehle der Türkei generell eine strategische Vision, was mit Zentralasien zu tun sei, es gebe keine Prioritätenliste und keinen langfristigen Aktionsplan. Aber es gibt einen türkischen Nationalismus.
Von Konstantin Olschanskij
Aufschwung des türkischen Nationalismus: Erdogan träumt, den «Turk Bogen» bis zum Baikalsee
