Ohne ein versöhnliches Zeichen wollten Sie dann doch nicht auseinandergehen“, freut sich Kurt Furgler auf dem Podium des Pressezentrums in Genf. Als Präsident der Schweiz ist er im November 1985 Gastgeber eines ersten Gipfels zwischen dem Generalsekretär der sowjetischen KP, Michail Gorbatschow, und US-Präsident Ronald Reagan. Ein gemeinsames Kommuniqué droht daran zu scheitern, dass die Amerikaner partout nicht von ihrem SDI-Projekt lassen und unbedingt Abwehrraketen im Weltraum platzieren wollen. Doch dann einigt man sich auf eine salomonische Formel. Weil ein Atomkrieg nicht gewonnen werden könne, sollte jeder etwas tun, ihn zu verhindern. Das sei durch Abrüstung möglich – wer die wo zu betreiben hat, bleibt offen. Sowjets und Amerikaner verlassen Genf in der Annahme, sich wegen dieses Ziels anderswo früher oder später wieder zu treffen. Kein Jahr später wird das in Reykjavik geschehen, als die Nulllösung für Mittelstreckenraketen zwar noch nicht zustande kommt, aber der sie besiegelnde INF-Vertrag in Sicht ist.
Kein Kommuniqué, keine Erklärung, kein Zeichen der Annäherung hingegen nach dem Videogipfel USA-Russland am 7. Dezember. Allein der Bescheid, in unüberbrückbaren Differenzen zu verharren. Warum ist im Kalten Frieden unserer Tage so gründlich verspielt, was im Kalten Krieg möglich war? Seinerzeit reichte das Kernwaffenarsenal der USA und der Sowjetunion, um sich 25- bis 30-mal gegenseitig zu vernichten (woran sich zwischen den USA und Russland nicht viel geändert hat). Damit stand außer Frage, die Menschheit sollte ihren letzten großen Krieg unwiderruflich hinter sich haben. Falls nicht, würde sie nicht länger unsterblich sein. Ein Überleben konnte es nur geben, wenn die dem Menschen von der Natur verliehene Fähigkeit der Vernunft ins Spiel kam – über Systemgrenzen hinweg.
Am Bemühen, dem gerecht zu werden, fehlte es bis zum Ende der Ost-West-Polarität keineswegs. Seit 1973 verhandelten in der Wiener Hofburg NATO und Warschauer Pakt über Truppenstärken sowie konventionelle Rüstung, man lud sich gegenseitig zu Manövern ein und tauschte Daten aus. Chemie- und kernwaffenfreie Zonen in Mitteleuropa zeichneten sich ab. Auf SALT I (1972) und SALT II (1979) zu Höchstgrenzen bei nuklearen Offensivwaffen der UdSSR und USA folgte 1991 noch zu Lebzeiten der Sowjetunion das erste START-Abkommen.
Solcher Geschäftsgrundlage einer gewiss nie krisenfesten, jedoch krisenerprobten Entspannungspolitik lag das Prinzip zugrunde, eigene Sicherheit nicht vor einem Gegner, sondern nur mit ihm erreichen zu wollen. Vom einstigen Vertragssystem einer in Ansätzen kollektiven Sicherheit ist heute bis auf das New-START-Abkommen nichts geblieben. Ob es um den INF-Vertrag geht, durch den erstmals im Atomzeitalter gut 2.600 Raketen mit Kernsprengköpfen verschrottet wurden, um das Abkommen über konventionelle Waffen (KSE) oder die Übereinkunft „Open Sky“, die das Recht auf Beobachtungsflüge über fremden Territorien regelte. Fast schon vergessen ist der 1972 als Teil von SALT I ausgehandelte ABM-Vertrag, der die strategischen Abwehrsysteme beider Seiten soweit reduzierte, dass ein Angreifer wusste, einem Gegenschlag relativ schutzlos ausgeliefert zu sein. Die mit ABM verankerte gegenseitige Verwundbarkeit war die beste Gewähr gegen eine thermonukleare Konfrontation. 2002 hielten es die USA für geboten, einseitig auszusteigen.
Warum wird von denen, die unablässig über Menschenrechte reden, nie beklagt, dass in wenigen Jahren so viel von dem verloren ging, was das Menschenrecht auf Leben schützen half? Dass buchstäblich geopfert wurde, was gegenseitigem Vertrauen zwischen Ost und West, Russland und der NATO, zuträglich war? Die Schuld daran trägt kein leichtfertiger Zeitgeist, sondern das hochmütige Kalkül des Westens, sich das leisten zu können und zu müssen. Schließlich hungerte die Welt wie in Afghanistan nach westlicher Ordnungspolitik.
Referenzprojekt des Abschieds von der geopolitischen Vernunft ist die seit mehr als zwei Jahrzehnten betriebene NATO-Osterweiterung. Sie lastet wie ein Fluch auf Europa, vergiftet die internationalen Beziehungen, beschädigt die Kultur eines politischen Auskommens auf Augenhöhe und wird für lange Zeit ein Verhängnis bleiben. Die Versuchung war groß, die ab 1989/90 schwindende Ost-West-Balance in eine West-Dominanz zu verwandeln. Und sich dafür militärischer Tatsachen zu bedienen. Die haben seit jeher das Zeug dazu, vollendete Tatsachen zu schaffen. Ob sich Russland davon als System, Staat oder Gesellschaft bedroht fühlt, ist eine, aber nicht die allein wesentliche Konsequenz. Maßgebend ist die daraus abgeleitete Handlungsalternative: als Großmacht diesen Bündnisimperialismus hinzunehmen oder ihm zu widerstehen? Dabei steht die Gewissheit Pate: Es gibt für die NATO vorerst keinen Weg zurück. Soll ihr die Bündnisräson nicht wie poröser Kitt durch die Finger gleiten, muss sie bei dem bleiben, was sie angerichtet hat und was daraus folgt. Folglich kommt nach all den Neuzugängen aus Ost- und Südosteuropa die Ukraine als Präzedenzfall einer finalen Osterweiterung in Betracht. Die zitierte Alternative treibt das auf die Spitze und Russland zu der Frage: Sein oder Schattendasein?
Die westliche Allianz kann ihr Vordringen als legitimen Wertetransfer drapieren, so oft und so viel sie will, eines wird schamhaft verschwiegen und nie offen zu Ende gedacht: die dieser Hybris immanente Kriegslogik, wie sie jetzt unverblümt zum Vorschein kommt. Wird die an der West- und Südgrenze Russlands auf beiden Seiten aufgestaute Geltungsmacht zur Kriegsmaschine, winkt keine niedrigschwellige Konfrontation, sondern sehr viel mehr. Dann folgt auf den letzten ein allerletzter Krieg.
Das Bewusstsein für die heraufbeschworene Gefahr ist in eine medial eher beiläufige Notiz zum jüngsten Biden-Putin-Gipfel eingeflossen. Sie lautet, im Fall eines bewaffneten Konflikts zwischen Russland und der Ukraine wollten sich die USA und die NATO nicht über das jetzige Maß hinaus exponieren. Mit anderen Worten, sie würden nicht kämpfen. Jedenfalls zunächst nicht. Warum, ist klar. Geraten die USA und Russland direkt aneinander, ist ein atomarer Schlagabtausch nicht auszuschließen.
Die NATO hat die Ukraine als Frontstaat gegen Russland in Stellung gebracht und die Führung in Kiew das ausdrücklich gewollt, sodass ihr nun die zweifelhafte Ehre zuteil werden kann, gegen Russland in einen Stellvertreterkrieg des Westens zu ziehen, dessen Risikofreude eine „rote Linie“ kennt. Das Beschwören von harten Wirtschaftssanktionen – bis hin zum Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem – ist weniger Drohung als Flucht aus der Verantwortung für die eingetretene Eskalationsdynamik. Sie hat bereits dazu geführt, dass die Ukraine seit 2014 nie weiter davon entfernt war, im Donbass wieder Fuß zu fassen. Das geht nur über den großen Clash. Wer will den wirklich?
In einer derart verfahrenen Situation gibt es einen bemerkenswerten Rückgriff auf die Vernunft. In ihrem Statement vom 5. Dezember, überschrieben mit „Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland“ plädieren 28 ehemalige deutsche Diplomaten und hohe Militärs, die Generalinspekteur der Bundeswehr oder NATO-Botschafter in Brüssel waren, für ein sofortiges Moratorium. Man sollte den Status quo festschreiben, statt sich weiter in „formelhaften Vorverurteilungen“ zu gefallen, heißt es. Angeregt wird ein der einstigen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vergleichbarer Verhandlungsprozess aller Konfliktparteien, der „ohne Vorbedingungen“ auskommt und für mindestens zwei Jahre anzusetzen ist. Während dieser Zeit sollten dies- und jenseits der russischen Westgrenze keine zusätzlichen Truppen stationiert werden. Mehr noch, die Autoren halten ein „Freeze“ für unabdingbar, sprich: solange verhandelt wird, keine neuen Mitgliedschaften anbahnen oder vollziehen, weder in der EU noch der NATO noch der CSTO, dem Vertrag über kollektive Sicherheit, dem Russland und fünf weitere postsowjetische Staaten angehören.
Man kann sich darauf verlassen, dass dieser Vorstoß der Vernunft bestenfalls Respekt, nicht aber Gehör findet, um befolgt zu werden. Die NATO müsste sich darauf einlassen, die Osterweiterung vorübergehend zu stoppen. Das ist viel zu nah an der Forderung von Wladimir Putin, deren Ende vertraglich zu vereinbaren. Weshalb den Frieden retten, wenn das der Preis sein soll?
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