Vermutlich haben Sie sich das jetzt so vorgestellt: Angela Merkel wird mit ein paar Fackeln und Nina Hagen in einer Blaskapellenversion, die jede Oktoberfestkapelle vor Neid erblassen lässt, aus dem Amt verabschiedet – und danach ist von ihr erst einmal nicht mehr die Rede.
Da haben Sie die Rechnung allerdings ohne mich gemacht. Denn meine staatstragenden 3.600 Anschläge als Podcastkolumnist hätte ich dann doch auch noch ganz gerne. Immerhin gilt es, eine wahre Visionärin dieses Mediums zu verabschieden. Selbst nach dem großen Zapfenstreich, als die scheidende Kanzlerin nun wirklich mal einen Gang hätte runterschalten können, flatterte noch einmal eine neue Episode des Kanzlerinnenpodcasts in die Podcatcher – die letzte Folge von Bundeskanzlerin Merkel aktuell. Von der Konzeption als Videopodcast angelegt, wurde später auch die Audiospur als Podcast abonnierbar gemacht.
Über 600 Folgen sind so in den vergangenen 15 Jahren erschienen. Und da muss man nun kein überragender Kopfrechner sein, um festzustellen: Die Kanzlerin a. D. war seit 2006 im Podcast-Business. Das macht Merkel im deutschsprachigen Raum quasi zu einer Pionierin, zumindest aber zu einer „early adopterin“. Damals war das, was Merkel da machte, „eine ziemliche Besonderheit“, wie sie sich in ihrer letzten Folge erinnert. Merkel wandte sich mit ihrem Podcast direkt an die Nation, an die „Mitbürgerinnen und Mitbürger“, und griff in den Folgen, die nur ein paar Minuten dauerten, meistens ein aktuelles Thema auf. Jedenfalls eines, das ihr „am Herzen“ lag. Mal ging es um das Gedenken an den Überfall auf die Sowjetunion durch die Nazis, mal um eine Ausbildungsoffensive oder das Gift des Rechtsextremismus. Immer wieder zitierten sogar Medien aus dem Podcast der Kanzlerin – und mal ehrlich: Was willst du als Podcaster:in mehr, als dass der Deutschlandfunk aus deinem Podcast zitiert.
Der Blick zurück auf Merkels Oeuvre ist jedenfalls ein denkwürdiger Gang durch die Zeitgeschichte. Zuletzt ging es viel um Corona – worum auch sonst. Und wie wehmütig wird man, wenn man sieht, dass Merkel schon in einer Folge aus dem Jahr 2013 wusste: „Das Internet ist kein Ersatz für Konzerte“. Donnerwetter! Als hätte sie die Nöte der müden Corona-Gesellschaft schon Jahre vorher erahnt. Aber es gab ja auch bessere Zeiten. Zumindest klingt der Titel einer Folge aus dem Jahr 2013 danach: Blühende Landschaften im Chemiedreieck. 2015 äußerte sie sich zum Dieselskandal und schon 2009 forderte sie „schnelles Internet für alle“.
Themen am Puls der Zeit, Einblick ins Private (es gibt eine Folge über das Wandern), alles im unverwechselbaren Merkel-Stil, der vielleicht rhetorisch wenig aufregend, aber eben Marke ist: Die Bundeskanzlerin hat die Podcastklaviatur beherrscht. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht mehr, dass Merkel in ihrer Corona-Ansprache an die Nation am 18. März 2020 ausgerechnet das Beispiel der Enkelkinder brachte, die für ihre Großeltern einen Podcast aufnehmen.
Angela Merkel nimmt jetzt keine Podcasts mehr auf. Kann Olaf Scholz in ihre Fußstapfen treten? Will er es überhaupt? Wir werden sehen. In der Zwischenzeit können wir uns Podcasts über Angela Merkel anhören. Zum Beispiel „Merkel-Jahre“ – Der unwahrscheinliche Weg der Angela M. von Stephan Detjen und Tom Schimmeck – ein Siebenteiler, in dem die Journalisten sich auf eine Spurensuche begeben.
Aber in Wahrheit warten wir doch alle auf ein Comeback von Merkel höchstselbst mit einem eigenen Podcast. Hat Obama schließlich auch so gemacht – zusammen mit Bruce Springsteen. Renegades: Born in the USA hieß der gemeinsame Podcast. Dass also bald Angela Merkel und Nina Hagen mit Born in the GDR nachfolgen, scheint beinahe unvermeidbar.
In einer vorangegangenen Version des Artikels war die Rede davon, Merkel habe ihre Corona-Ansprache an die Nation im März 2018 gehalten. Der Fehler wurde korrigiert
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