Von Julia Lauer
Heidelberg. Sie heißen B.1.1.7., B.1.351 oder auch N501Y: die Ausprägungen des Coronavirus, mit denen Dr. Vladimír Beneš tagtäglich zu tun hat. Wöchentlich kommen rund 1000 Proben bei ihm im Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie an, und als Leiter der Abteilung für Genomforschung wertet Beneš sie aus. Der Raum ist fensterlos, aber hell erleuchtet, und es brummt darin, als liefe eine Spülmaschine. Tatsächlich sind es die Geräte, die ihm beim Auslesen der Daten helfen.
"Das Genom des Coronavirus setzt sich aus 30.000 Bausteinen zusammen, und hier wollen wir wissen, wie genau es aussieht", erklärt Beneš auf Englisch. Das also ist es, was sich hinter dem komplizierten Begriff der Vollgenomsequenzierung verbirgt. An diesem Tag führt der Wissenschaftler – kurze Haare, randlose Brille, weißer Kittel – nicht nur Landeswissenschaftsministerin Theresia Bauer durch die Räume, auch Pressevertreter können sich einen Eindruck von seiner Tätigkeit verschaffen. Die Proben, die Beneš untersucht, stammen längst nicht nur aus Heidelberg, etwa auch jene des Testzentrums in Reilingen kommen bei ihm an.
Der Wissenschaftler erhält sie jedoch vom Heidelberger Universitätsklinikum, einmal wöchentlich werden sie geliefert. Das Klinikum hat die Proben dann bereits vorbereitet, indem es sie auf Plättchen aufbringt. Die Auswertung übernimmt entweder Beneš oder das Deutsche Krebsforschungszentrum. Das Genom, sagt Beneš unter seiner Maske, sei zu diesem Zeitpunkt isoliert und nicht mehr gefährlich. 24 Stunden dauere die Auswertung, sie laufe über Nacht. Die Ergebnisse übermittelt er an die Behörden, die sich aufgrund dieser Daten ein Bild von der Lage verschaffen.
An Heiligabend wurde die britische Variante des Virus erstmals in Deutschland nachgewiesen, bei einer Frau, die aus Großbritannien nach Baden-Württemberg eingereist war. Inzwischen sind die Virusvarianten längst auf dem Vormarsch, insbesondere die britische Variante breitet sich aus – in ganz Deutschland genauso wie vor Ort. In Heidelberg geht mehr als die Hälfte der aktiven Fälle auf eine Infektion mit einer Virusvariante zurück, und in mindestens einem Drittel aller Fälle steckt die britische Variante dahinter. Das teilte das Gesundheitsamtes des Rhein-Neckar-Kreises mit.
Es sind Forscher wie Beneš, die solches Wissen verfügbar machen. Während die bundesweite Verordnung zur Überwachung des Coronavirus vorsieht, das Genom von nur fünf bis zehn Prozent der positiven Proben zu entschlüsseln, verfolgt Baden-Württemberg besonders ambitionierte Ziele, weil es positive Proben nicht nur stichprobenartig, sondern flächendeckend untersucht. Ende Januar kündigte das Land an, die Proben aller positiven Tests auf Mutanten hin genauer in den Blick zu nehmen. Dazu arbeiten die Universitätskliniken in Heidelberg, Mannheim, Freiburg und Tübingen mit weiteren Partnern zusammen. Gemeinsam sind sie nun in der Lage, mehrere Tausend Proben wöchentlich zu sequenzieren, auch wenn eine vollständige flächendeckende Untersuchung derzeit noch nicht erfolgt (siehe Hintergrund).
Der Urtyp, die britische Variante oder auch die südafrikanische: Mit diesen Typen, die man aus den Nachrichten kennt, hatte es auch Genomforscher Beneš bei seiner Arbeit schon zu tun. Aber dazu noch mit einer weiteren – mit einer, die er als den Heidelberger Typus bezeichnet. Der Heidelberger Typus? In offiziellen Dokumenten ist von ihm keine Rede. Auf einem Balkendiagramm in seinem Labor hat Beneš die Verteilung zusammengestellt, demnach macht der Heidelberger Typus einen guten Teil der Proben aus, die sein Labor ausgewertet hat. Man wisse nicht viel über sie, meint Beneš. "Es könnte sich um einen Subtyp der britischen Variante handeln."
Was bedeutet das, wie aggressiv ist diese Mutante, besteht Grund zur Sorge? Hans-Georg Kräusslich, Chefvirologe des Klinikums, beruhigt in der anschließenden Pressekonferenz. Zwar will er sich nicht festlegen, ob es sich um einen Subtyp der britischen Variante handelt oder nicht, aber einen Anlass zur Beunruhigung sieht er nicht. "Es gibt kein Heidelberg-Virus", sagte er. "Das ist eine Variante, die hier vermehrt auftritt, aber sie ist kein Grund zur Besorgnis", versichert er. Sie sei aus Datenbanken bereits bekannt und mit den verfügbaren Impfstoffen zu bekämpfen. Die Sequenzierung sei wichtig, um das Geschehen zu verstehen und zu kontrollieren, betonte der Professor. "Und wenn man so etwas macht, findet man Dinge, die man ansonsten nicht gefunden hätte."
Update: Donnerstag, 4. März 2021, 20.10 Uhr