Sie arbeiten Zwölf-Stunden-Tage bei geringer Entlohnung: Arzthelferinnen sind die vergessenen Heldinnen der Pandemie und machen ihrem Ärger in einem offenen Brief Luft.
Dieser Beitrag erschien zuerst an dieser Stelle auf RTL.de.
80 bis 100 Prozent aller Corona-Erkrankten werden ambulant, also de facto von ihrem Hausarzt betreut. Und sie alle müssen als erstes mit den Arzthelferinnen in Kontakt treten. Hinzu kommt, dass viele Patienten ängstlich und aggressiv sind – für die Arzthelferinnen eine doppelte Belastung. Danken tut ihnen dafür aber niemand. PAID Intensivmedizin Covid-19 coronaInterview_12Uhr
Es ist kurz nach sieben, bitterkalt und stockdunkel: Aber vor der Praxis in Lindlar steht schon eine Schlange von Patienten. Währenddessen fährt Sylke Schiffarth, 56, drinnen eilig die Geräte hoch, macht das Licht an und bereitet sich auf einen langen Tag vor: "Vor halb acht bin ich selten Zuhause."
Als sie um 7.30 Uhr die Tür aufschließt, treten die Patienten erleichtert ein. Jeder mit einem eigenen, ganz dringenden Anliegen. Im selben Moment beginnt das Telefon zu klingeln – es wird im Laufe des Tages kaum mehr aufhören. "Sie müssen sich vorstellen, wenn ich pro Tag 60 bis 70 Patienten sehe, sehen die Arzthelferinnen ja mal mindestens 300", erzählt uns Frau Schiffarths Chef, Dr. Thomas Aßmann.
Sylke Schiffarth begrüßt jeden einzelnen mit einem Lächeln, das man trotz Maske gut erkennt und beantwortet geduldig alle Fragen. Zeit zum Luft holen gibt es kaum: "Unsere erste Pause haben wir gegen halb 2, die Praxis ist zwar von 12 bis 15 Uhr geschlossen, für uns ist das aber auch die Zeit, in der wir nacharbeiten und vorbereiten."
Seit Beginn der Coronakrise ist die Arbeitsbelastung für die Arzthelferinnen, oder "medizinischen Fachangestellten", wie sie in der Fachsprache heißen, extrem und wird immer größer.
Schon Ende Oktober macht Saskia Stachel, 30 Jahre alt und seit 14 Jahren Medizinische Fachangestellte, ihrem Ärger in einem offenen Brief Luft: "Der Praxisalltag ist für die meisten MFAs einfach nicht zu schaffen. Es gibt etliche Kolleginnen, die kurz vor einem Burn-out stehen und/oder sich beruflich umorientieren, weil der Beruf nichts mehr mit dem zu tun hat, welchen man erlernt hat."
Und dabei herrscht schon heute Personalmangel in vielen Praxen. "Es ist ganz schwierig, Personal zu finden. Es will ja keiner zu Corona-Zeiten in einer Arztpraxis arbeiten", sagt Sylke Schiffrath.
Hinzu kommt, dass der Beruf nahezu zu 100 Prozent von Frauen ausgeübt sind. Viele von ihnen sind Mütter und müssen in diesen Zeiten auch die Kinderbetreuung neu organisieren.
Außerdem können große Krankenhäuser auch bessere Gehälter zahlen, sodass sich das knappe Personal eher für die Krankenhäuser entscheidet. Anreize werden auch nicht geschaffen: Während Beschäftigte in Krankenhäusern und Altenheimen – völlig zurecht – immerhin Corona-Bonusse bekommen, gehen die medizinischen Fachangestellten in den Praxen leer aus.
Das sei nicht fair, vor allem weil die Arzthelferinnen ebenfalls sehr eng mit Corona-Erkrankten arbeiten: "Sie sind alle hier gewesen, sie sind getestet worden, sie durchlaufen die Praxis. Also wir sind da genauso mittendrin wie jeder andere im Gesundheitswesen auch."
Die finanzielle Situation müsse sich verbessern, das fordert auch der Verband medizinischer Fachberufe in einem 10-Punkte-Plan. Eine aktuelle Umfrage des Verbands zeigt, mehr als jede zweite medizinische Fachangestellte hat finanzielle Sorgen. Ein Corona-Bonus kann das zwar nicht ausgleichen, er wäre aber ein Signal in die richtige Richtung. Aus der Politik gibt es aber nur Absagen: "Von Bundesebene aus ist eine Ausweitung der Corona-Prämie auf weitere Berufsgruppen nicht vorgesehen.", sagt die Gesundheitssprecherin der Unions-Fraktion Katrin Maag.
Auch Möglichkeiten sich regelmäßig kostenlos testen zu lassen, gibt es für die Arzthelferinnen, im Vergleich zu Lehrern zum Beispiel, nicht. Und beim Impfen sind die Arzthelferinnen im Gegenteil zum Krankenhauspersonal erst in der zweiten Prioritätsstufe vorgesehen. Und das obwohl viele von ihnen nach der Arbeit und am Wochenende noch in Impfzentren aushelfen.
Viel Arbeit also für zu wenig Menschen, die medizinischen Fachangestellten sind am Limit, laut der Umfrage des Verbands haben gut 90 Prozent der Beschäftigten eine höhere Stressbelastung als noch bei der ersten Welle im Frühjahr 2020. Am meisten stressen laut der Umfrage die zunehmende Bürokratie, das Telefonieren und die steigende Zahl an Patienten. Am schlimmsten sei aber die Angst davor, sich am Arbeitsplatz anzustecken. Coronaticker 11.2. Dreh 12.50
Saskia Stachel genau wie Sylke Schiffrath wünschen sich mehr Anerkennung, aber vor allem auch Geduld. "Dass Corona sich auf den Gemütszustand mancher Menschen auswirkt, ist bekannt, aber dass so viele MFAs den Unmut täglich abbekommen, darüber spricht niemand", schreibt Saskia Stachel in ihrem Brief.
Und trotzdem lieben beide, Saskia Stachel wie Sylke Schiffrath, ihren Job.
Sylke Schiffrath, die stolz darauf ist, dass auch fünf ihrer sieben Töchter im Gesundheitswesen arbeiten. "Für Menschen da sein und ihnen helfen, das finde ich einfach toll." Und so wird sie auch morgen um sieben wieder an der ersten Front im Kampf gegen diese Pandemie stehen und dabei lächeln.