Mehrere Bundesländer schlagen Stufenpläne vor, die Deutschland schrittweise aus dem Lockdown führen sollen. Die Landesregierungen sind allerdings in verschiedenen Treppenhäusern unterwegs.
Es ist wieder soweit, das ist kaum zu überhören. Am Mittwoch werden sich Bund und Länder in vertrauter Prozedur über die Pandemie-Lage in Deutschland beugen – wie sieht's aus, wie geht's weiter? – und die ersten Ministerpräsidenten schlagen schon mal einen Pflock ein: Es braucht eine Perspektive; zumindest Hoffnung auf den heilsamen Schock – für die scheintote Kultur, ausgehungerte Gastro oder Eltern, die zwischen Homeoffice und Kinderbetreuung zerrieben werden. Der Lockdown wird vermutlich ein weiteres Mal verlängert werden. Doch wann und wie können die Anti-Corona-Maßnahmen gelockert werden? Auch das gilt es zu klären.
Für drei Bundesländer lautet die Losung: Stufenplan. Stufe für Stufe, vor allem mit dem Erreichen bestimmter Inzidenzwerte, soll ein Ausweg aus der Pandemie gefunden werden. Zuletzt hat Thüringen einen solche Öffnungsstrategie ins Spiel gebracht, die auf Plänen aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen basiert. Allerdings sind die Landesregierungen in verschiedenen Treppenhäusern unterwegs – und ob am Ausgang tatsächlich das erhoffte "Exit"-Schild hängt, ist umstritten.
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Aktuell sinken zwar die bundesweiten Infektionszahlen, aber nicht so schnell, wie erhofft. Gleichzeitig steigt die die Gefahr durch Corona-Mutationen. "Der Wettlauf ist längst verloren. Es wird kommen wie in England", prognostizierte unlängst die Virologin Melanie Brinkmann im Gespräch mit dem "Spiegel" und forderte eine konsequente – manche würden auch sagen: radikale – Eindämmungsstrategie.
Auch Politiker sprachen sich in der aktuellen Situation gegen vorschnelle Lockerungen aus. "Wenn wir nicht aufpassen, machen wir alle Erfolge zunichte", warnte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). "Und die Kombination aus überstürzter Lockerung und Mutation, die ist echt hochgefährlich." Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dämpfte derweil Hoffnungen auf einen langfristigen Stufenplan, den es "halt in dieser Dynamik, in dieser Pandemie nicht geben" könne. Und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat mit einem zeitnahen Lockdown-Ende praktisch schon abgeschlossen.
Die Gemengelage bleibt also: höchst kompliziert.
Das liegt nicht zuletzt an dem politischen Ziel, den Sieben-Tage-Inzidenzwert – die Zahl der Infektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen – unter die 50-Marke zu drücken. Aktuell liegt der bundesweite Wert laut Robert Koch-Institut (RKI) bei 76, also deutlich über dem gewünschten Ziel, das Bund und Länder Mitte Januar erneuert hatten. Nur so könne man "ähnlich wie im Sommer des letzten Jahres bei niedrigem Infektionsniveau wieder Normalität zurückgewinnen", hieß es im entsprechenden Beschlusspapier.
Lockerungen Schleswig-Holstein
Die Forderung nach einem Stufenmodell, für das sich auch einige Fachleute aussprechen, lässt sich also auch als Abkehr von der bisherigen Linie verstehen. Denn geht es nach den Vorschlägen von Thüringen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen, soll die 50er-Schwelle nicht mehr als das entscheidende Erfolgskriterium gelten, das Lockerungen greifbar machen würde. Stattdessen würden kleinteilige Korridore definieren, welche Anti-Corona-Maßnahmen wann entschärft werden könnten.
Beispiel Thüringen: Dort könnte die Gastronomie auf Stufe 1 (moderates Infektionsgeschehen ab einer Inzidenz von 5) mit Hygienekonzepten öffnen, ein Saalbetrieb mit bis zu 100 Personen wäre erlaubt. So gehe es aus einem Entwurf hervor, aus dem der "Spiegel" zitiert. Auf Stufe 2 (hohes Infektionsgeschehen ab Inzidenzen von 20 bis 30) wäre ein Saalbetrieb nicht mehr erlaubt, außerdem würde ab 23 Uhr eine Sperrstunde gelten. Auf Stufe 3 (starkes Infektionsgeschehen ab Inzidenzen von 40 bis 60) würde die Sperrstunde auf 21 Uhr vorgezogen, ab Stufe 4 (sehr starkes Infektionsgeschehen ab Inzidenzen von 85 bis 115) wären nur noch Lieferung und Abholung erlaubt. Ab Stufe 5 wäre in Thüringen von einem "eskalierenden Infektionsgeschehen" (Inzidenzen von 180 bis 220) die Rede.
Ähnlich detailliert sind die Vorschläge aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen, wenngleich sie eigene Akzente setzen. So sieht das Modell aus Schleswig-Holstein etwa eine schrittweise Öffnung in vier Stufen vor, während Niedersachsen in sechs Stufen lockern will. Zudem will sich Thüringen nicht nur am Inzidenzwert orientieren, sondern auch an Kriterien wie der Dynamik des Infektionsgeschehens, die erreichte Impfquote oder die Auslastung von Intensivbetten.
Geschmiedet wurden die jeweiligen Pläne auch mit Blick auf das Infektionsgeschehen im eigenen Bundesland, das sich im direkten Vergleich stark unterscheidet: Thüringen ist noch immer das Land mit der höchsten Sieben-Tage-Inzidenz, der Wert liegt nach Angaben des Freistaats bei 137,8. Die Werte in Schleswig-Holstein (61,4) und Niedersachsen (71,0) fallen deutlich niedriger aus.
Dennoch sollen die Strategiepapiere in die Bund-Länder-Beratungen eingebracht werden. Thüringes Rot-Rot-Grüne Landesregierung pocht auf "möglichst bundesweit einheitlich festzulegenden Kriterien für einen Stufenplan". Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil (SPD) fordert ebenfalls einen bundeseinheitlichen Stufenplan. Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) will Schleswig-Holsteins Stufenplan als Grundlage für die Diskussion verstanden wissen, wie er vorwegschickte. Einen Sonderweg wolle man nicht einschlagen, Ziel sei aber auch hier eine bundesweit einheitliche Regelung.
Eine einheitliche Regelung erscheint allein vor dem unterschiedlichen Infektionsgeschehen als schwierig. Darüber hinaus wäre in einem Stufenmodell die Gefahr immer neuer Lockdowns wohl nicht gebannt, sondern praktisch eingepreist – weshalb Wissenschaftler, die sich in der "No Covid"-Initiative zusammengefunden haben, schon seit Wochen fordern, dem Virus durch eine temporäre aber knallharte Verschärfung der Regeln den Nährboden zu entziehen. Kurzum: Die einen sehen in einem Stufenmodell eine Perspektive, die anderen einen "Jojo-Lockdown" oder "Stotter-Lockdown".
Wie lässt sich diese Gemengelage zu einem gemeinsamen Beschluss, einer gemeinsame Linie gießen? Die Debatte zeigt vor allem: Der Druck wächst, bestimmte Bereiche so schnell wie möglich wieder zu öffnen. Besonders Schulen und Kitas genießen dabei hohe Priorität, zumindest darin sind sich wohl alle einig. Laut Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wolle man hier eine langfristige Strategie auf den Weg bringen, wie die Nachrichtenagentur DPA aus Teilnehmerkreisen des CDU-Präsidiums erfahren haben will.
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Allerdings illustriert die Diskussion auch, dass die Erinnerung an den vergangenen Sommer allmählich zu verblassen scheint. Zu diesem Zeitpunkt lag der bundesweite Inzidenzwert zeitweise im einstelligen Bereich – eine Sieben-Tages-Inzidenz von 50 war ein Maximalwert, den es dringend zu vermeiden galt. Vor diesem Hintergrund dürften sich schon jetzt viele Bürgerinnen und Bürger fragend am Kopf kratzen, warum ein Inzidenzwert von 50 plötzlich Lockerungsbedürfnisse weckt. Die Sorge vor Corona-Mutationen wächst, die Impfkampagne in Deutschland bleibt hinter den Erwartungen zurück und der Inzidenzwert ist nicht so schnell gefallen wie erhofft.
Es sind noch einige Stufen zum "Exit"-Schild zu nehmen.