Stuttgart. (dpa/lsw) Entgegen ursprünglicher Planungen könnten Singen und Blasmusik in geschlossenen Räumen an Schulen unter gewissen Bedingungen nach den Sommerferien nun doch erlaubt werden. "Keiner will, dass Blasmusik oder Singen in unseren Schulen keinen Platz kriegt", erklärte Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) am Mittwoch im Landtag. "Wir prüfen das sehr engmaschig."
Man setze drauf, dass man in den nächsten Tagen Untersuchungen bestätigen könne, "dass man sagen kann: Mit zwei Metern Abstand, begrenzt auf eine bestimmte Gruppe, mit Durchlüftung, mit anderen Vorgaben kann man Singen und Blasmusik in den Schulen ermöglichen." Trotzdem müsse man den Gesundheitsschutz weiterhin im Blick haben. "Wir entscheiden analog zum Infektionsgeschehen und gehen Schritt für Schritt voran." Ziel müsse sein, eine zweite Infektionswelle zu verhindern. Eine Entscheidung sei aber noch nicht gefallen, sagte eine Sprecherin des Kultusministeriums.
Kirchliche und weltliche Chorverbände im ganzen Land, aber auch die Opposition hatten gegen das geplanten Gesangsverbot an Schulen protestiert. Beim Singen können Wissenschaftlern zufolge sogenannte Aerosole, also Gemische aus festen oder flüssigen Schwebeteilchen, bis zu eineinhalb Meter nach vorne ausgestoßen werden. Das kann eine Infektion mit dem Coronavirus begünstigen.
Update: Mittwoch, 22. Juli 2020, 13.27 Uhr
Von Daniel Bräuer
Heidelberg. Der Appell ist eindringlich, die Worte sind drastisch: "Das Verbot musikalischer Arbeitsgemeinschaften bedroht die Schulkultur!", warnt der Bundesverband Musikunterricht (BMU). Der baden-württembergische Landesmusikrat befürchtet bereits "Folgeschäden in unserer doch einzigartigen Musiklandschaft", wie es in einem Offenen Brief an Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) heißt. Unterstützung kommt von den großen Chorverbänden im Südwesten, darunter Schwäbischer und Badischer Chorverband und der Landesverband Evangelischer Kirchenchöre in Baden, in seltener Einheit. Was steckt hinter den Beschwerden?
Die Pläne fürs kommende Schuljahr
Auslöser ist das Konzept für die Öffnung der weiterführenden Schulen nach den Sommerferien, das Eisenmann Anfang Juli verschickt hat. Es sieht einen weitgehend regulären Schulalltag vor – mit der Einschränkung, dass sich Schülergruppen nicht über Jahrgänge hinweg mischen dürfen. Das gilt ausdrücklich auch für Arbeitsgemeinschaften (AGs). Außerdem heißt es in dem Konzept: "Singen in geschlossenen Räumen ist ausgeschlossen, dies gilt auch für die Verwendung von Blasinstrumenten."
Die Beschwerde
Zwar sind AGs damit nicht verboten, nach Ansicht vieler Lehrer aber in der Praxis kaum möglich. "Dies bedeutet den Tod für jeden Schulchor, jedes Schulorchester", heißt es beim BMU. Auch die zuständigen Ausbilder an den Seminaren zur Lehrer-aus- und Fortbildung machen sich für den Erhalt stark. "Musikalische AG-Arbeit ist ein integraler Bestandteil des Faches", heißt es in einem bereits im Juni verfassten Konzeptpapier, das der RNZ vorliegt. AGs förderten die soziale Entwicklung und Entfaltung der Jugendlichen. "Musikpraxis hat im stark kognitiv geprägten Schulalltag eine wichtige Funktion." Und nicht zuletzt seien die vielen Chöre, Orchester oder Bigbands "ein Fundament für das Selbstverständnis Baden-Württembergs als Kultur- und Musikland." Aber dazu bräuchten sie kontinuierliche Arbeit.
Proteste geplant
Für kommenden Mittwoch um 14 Uhr wollen die Musiklehrer im ganzen Land Proteste organisieren. Nach RNZ-Informationen sollen die Elternbeiräte dazu Demonstrationen anmelden. Für Heidelberg waren gestern noch keine derartigen Pläne bekannt. Parallel läuft eine Online-Petition an das Kultusministerium unter dem Titel "Rettet die Schulmusik". Bis Donnerstagabend erhielt sie bereits 5600 Unterschriften aus Baden-Württemberg, insgesamt 6200.
Auch der Philologenverband hat in einem Rundschreiben an seine Mitglieder angekündigt, sich für Änderungen an dem Konzept einzusetzen, um doch klassenübergreifende AGs zu ermöglichen.
Nicht nur ein Problem für die Musik
Die Regeln, wie sie derzeit geplant sind, würden auch andere AGs betreffen. "Ich weiß nicht, wie ich das machen soll", sagt exemplarisch der Leiter einer AG für Schulsanitäter im Rhein-Neckar-Kreis. "Dann kann ich höchstens noch Schüler zum Dienst einteilen, aber gemeinsame Übungen sind nicht mehr möglich."
Wie es gehen könnte
Die Ausbilder der Lehrerseminare haben in ihrem Konzept bereits skizziert, wie 2020/21 Musikpraxis an Schulen aussehen könnte: Dazu gehören Arbeit in Kleingruppen, die erst später zusammengeführt werden; parallele Proben von Teilensembles unter der Leitung erfahrener Schüler; verstärkte Proben im zweiten Halbjahr (besonders für Sänger oder Bläser, wenn im Winterhalbjahr die Infektionen wieder steigen sollten);
Kurioserweise gibt es aus dem Kultusministerium selbst Vorgaben für Chöre und Bläsergruppen: An Musikschulen im Land dürfen sie bereits wieder proben, mit maximal 20 Mitgliedern, die zwei Meter Abstand halten und sich so aufstellen, dass niemand im Luftstrom des anderen sitzt; Schutzwände werden empfohlen. Weitere Details legt eine eigene Verordnung fest, die seit 1. Juli gilt. Unter anderem das Evangelische Jugendwerk Baden hat die Vorgaben für Kirchenchöre aufgegriffen.
Ministerium warnt vor Lockdown
Im Haus Eisenmanns reagiert man auf die Kritik gewohnt angriffslustig. Beim Singen bestehe ein erhöhtes Infektionsrisiko durch Aerosole, erklärte eine Sprecherin. "Dieses Thema sollte den Chorverbänden eigentlich bekannt sein." Damit riskiere man vermehrte Schulschließungen bis hin zu einem zweiten Lockdown. "Singen ohne Abstand geht nicht", so die Sprecherin weiter – dabei hatte diese Forderung auch niemand erhoben. Musik- oder Theater-AGs blieben "selbstverständlich" möglich, bis auf Gesang und Blasinstrumente. Das Ministerium werde auch über mögliche Lösungen für das Singen mit mehr Abstandsmöglichkeiten nachdenken, "etwa was die Nutzung von größeren Räumlichkeiten, also abseits der Klassenräume, betrifft". Auf das Problem der jahrgangsgetrennten Gruppen auch in AGs ging das Ministerium in seiner Stellungnahme nicht ein.