Von Carolina Paul
Schriesheim. Über 100 Menschen, die andächtig schwiegen. Über 100 Menschen, die an die Gräueltaten erinnerten, die mit der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 ihren Lauf nahmen. Es war damals nicht nur eine Regierung, die sich gegen eine Menschengruppe wandte, sondern das vorweggenommene Todesurteil für Millionen Menschen, Familien, Nachbarn, Freunde und gute Bekannte.
Juden lebten nicht in weit entfernten Städten, sondern in der Bevölkerung, in Schriesheim. Am Freitag erinnerte das Bild der neunjährigen Lore Sussmann an die jüdische Schriesheimer Gemeinde, die in dieser Form nicht mehr existiert. Die Überlebenden sind unter anderem US-Amerikaner und Südafrikaner geworden, geflohen, weil ihre Lage in Deutschland lebensbedrohlich wurde.
Gottesdienstbesucher bildeten Menschenketten
Genau wie Familie Sussmann und Lore, die sich heute in den Vereinigten Staaten Lora Tobias nennt. Namen wie Seligmann Fuld, Hedwig Eppsteiner oder Josef und Klara Marx stehen inzwischen mahnend auf goldenen Stolpersteinen, eingesetzt in die Straßen der Stadt, vor den ehemaligen Häusern der Ermordeten und Vertriebenen. Judenvermögensabgabe nannte man es damals, die Abgabe seines Hab und Guts als Jude. Es folgte die Flucht, die Deportation, jahrelange Misshandlungen und für viele der Tod in den Konzentrationslagern.
Mahnende und aufrüttelnde Worte waren es deshalb, die der katholische Pfarrer Ronny Baier während der Gedenkfeier auf dem Hof der ehemaligen Synagoge wählte. Der Rabbiner Salomon Fürst sei es gewesen, der die ehemalige Lutherische Kirche damals zu einer Synagoge weihte, erzählte Baier. Er habe damals gesagt: "Dieses Haus ist auch jetzt nichts weiteres als ein Gotteshaus", fügte Markus Enzinger hinzu, der das Haus nun bewohnt (die RNZ berichtete) und einige Worte an die Menschen richtete.
Nach einem gemeinsamen Lied lud die evangelische Pfarrerin Suse Best alle zum stillen Spaziergang von der ehemaligen Synagoge über die Heidelbergerstraße und die Kirchstraße bis in die evangelische Kirche ein, wo die Gedenkfeier weiterging. Dort zeigte der Theologie-Professor Joachim Maier Dokumente und Fotografien, die um 1938 entstanden waren.
Während 1933 unter 4307 Einwohnern noch 39 Juden in Schriesheim registriert waren, gab es 1940 unter 4448 Einwohnern keine Juden mehr. Die Ankündigung in der Zeitschrift "Hakenkreuz-Banner" vom 11. November 1938 "Bald wird Schriesheim judenfrei sein" wurde damit zur traurigen Gewissheit.
Katharina Flößer, die Schlüsselverwalterin der Synagoge, versuchte am 10. November 1938 noch, sich den Hitler-Anhängern in den Weg zu stellen. Sie weigerte sich, den Schlüssel herauszurücken, und wurde kurz darauf mit einem Schlag ins Gesicht außer Gefecht gesetzt. Die Inneneinrichtung wurde zerstört, und kurze Zeit später brannten an drei Feuerstellen in Schriesheim Gebetsbücher und Gegenstände aus der Synagoge.
"Alle konnten es riechen und, wenn sie wollten, auch sehen", sagte Maier. Hinsehen wollte der 17-jährige Wilhelm Metzger, "der dem Aschehaufen im Hof der Synagoge einige Gebetsblätter entriss, die bis heute das einzige Überbleibsel sind", so Maier. Auf den Blättern sind Segenssprüche für den Alltag zu lesen und das Tisch- und Nachtgebet.
Beim Anblick der vielen Fotografien herrschte eine bedrückende, aber auch ehrfürchtige Atmosphäre in der Kirche, die nur von Liedern, begleitet von Organistin Maria Mokhova, und Psalmen unterbrochen wurde.
Bilder aus der heutigen Zeit machten sich in den Köpfen breit, Bilder aus Chemnitz oder von anderen Aufmärschen Rechtsradikaler. Das "Vater Unser" setzte diesen Gedanken am Freitag etwas entgegen: Best und Baier riefen zum "Brücken schlagen zwischen den Bänken" auf. Alle standen auf, reichten sich die Hände, sprachen gemeinsam das "Vater Unser" und ließen den Gang zwischen den Bänken verschwinden. Es waren jetzt keine einzelnen Glieder mehr, sondern Ketten aus fremden Menschen, die sich in der Sache verbunden fühlten.