Als das Opernhaus Zürich Kirill Serebrennikow verpflichtete, war der Regisseur noch ein freier Mann. Seit mehr als einem Jahr steht er in Moskau unter Hausarrest, ohne Kontakt zur Außenwelt. Nur ein Anwalt darf ihn besuchen; in dieser Woche begann der Prozess wegen angeblicher Veruntreuung öffentlicher Gelder, der in Wahrheit wohl reine Willkür gegen einen unbequemen Künstler ist.
Das Opernhaus hielt standhaft zu ihm. Aus dem Moskauer Arrest kamen das detaillierte Regiebuch, Entwürfe für Bühne und Kostüme. Videos von den Proben, Videos mit Serebrennikows Anweisungen gingen mit Hilfe des Anwalts hin und her, und in Zürich setzte Freund und Choreograf Jewgenij Kulagin das Konzept um. Hat das funktioniert? Und wie!
Probleme schafft nicht ein Mangel an Gestaltung, sondern zu viel des Guten. Schon das Bühnenbild bietet zwei parallele Schauplätze. Stets sind zwei Etagen zu bespielen. Oben stöhnt Dorabella im Liebesakt und zieht die Operngläser im Publikum auf sich, während unten Fiordiligi alle Ohren mit Liebesschmerz betört. Das stößt sich. Serebrennikow spürt es selbst, wenn er Don Alfonso, den zynischen Regisseur der Wirrungen und Irrungen, aus der Rolle fallen lässt und zum Ansager macht: „Meine Damen und Herren, Sie hörten eine Arie aus Mozarts Oper Così fan tutte.“
Und im Opernhaus flimmert es: Der Regisseur ist schließlich auch auf der Leinwand zu Hause (die Besprechung seines neuen Spielfilms Leto lesen Sie auf S. 19).
Die chauvinistische Wette zweier Männer, die auf die Treue ihrer Bräute setzen, geht buchstäblich in die Hosen. In Mozarts Dramma giocoso ziehen die Männer vermeintlich in den Krieg, tauchen als Türken verkleidet wieder auf und erobern jeweils die Frau des anderen. Bei Serebrennikow verführen sie nicht, sie vergewaltigen die Frauen, die sich im ersten Akt noch gegen die eigene Libido sperren. Wette verloren, Beweis geglückt: Frauen können nicht treu sein. Così van tutte.
Hier wird die Oper zum Kommentar der MeToo-Debatte, des aktuellen Geschlechterkampfs. Pussy Riot lässt grüßen, wenn Despina, die Gehilfin des Don Alfonso, ihre Einspielfilmchen aus Szenen der aktuellen Frauenbewegung präsentiert. Wir sind schließlich, so der Oper Untertitel, in einer „Schule der Liebe“ – die sich als Schule der Untreue erweist, als Schule der Enttäuschung.
Die Männer treten aufgespalten in zwei Figuren in Erscheinung. Die eine ist ihr dunkler Trieb, dargestellt von tätowierten, bärtigen Kerlen, stumm und viril. Während die Sänger in schlichtem Schwarz ganz Seele bleiben, sich auf die Musik und die hehren Gefühle konzentrieren dürfen.
Serebrennikow treibt auch den Plot einen entscheidenden Schritt weiter, über den Tod hinaus. Die Männer ziehen wirklich in den Krieg, verabschieden sich für immer. Die Szene verwandelt sich in ein Krematorium. Die Damen drücken Urnen an den Busen – die sie freilich so hurtig verwechseln wie zuvor die Liebhaber. Trauer, Verzweiflung, dann aber werden die Witwen lustig. Weibliche Sexualität übernimmt das Kommando.
Das ist nun kein heiteres Experiment mehr, es ist eine makabre Groteske. Die Frauen streuen die Asche ins Bett und ins Haar. Sie kleiden sich neu ein, in einer Boutique, in der die Verblichenen als Verkäufer auferstanden sind. Und die triebhaften Doppelgänger spuken als schmucke Scheichs herum.
Das ist jetzt nicht mehr MeToo, es ist too much. Der intelligente Klamauk, der böse schwarze Humor stoßen an Grenzen. Und nur noch Mozarts so flirrend erotische wie seelentiefe Così-Musik hält Serebrennikows dekonstruierte Story zusammen.
Nicht einmal das: Plötzlich donnern die Schläge der Don-Giovanni-Ouvertüre aus dem Orchestergraben, erinnern an den steinernen Gast, der sich an Don Giovanni rächt. Aus dem Jenseits noch übt die herrschende Moral ihre Macht aus.
Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts verstanden Lust als natürliche Funktion der Maschine Mensch. Man kann die Oper des aufgeklärten Mozart als Requiem auf das erotische Zeitalter verstehen. Danach kam das romantische Zeitalter, die Epoche der falschen Liebesschwüre, der vermeintlich wahren Liebe, der Liebe als Selbstbetrug, bis dass der Tod sie scheidet. Heute wissen wir, dass auch die Steuerung der Gefühle die Liebenden noch lange nicht zu Herrinnen und Herren im eigenen Haus macht.
Mozart gab seiner Oper ein scheinheiliges, der Konvention geschuldetes Happy End. In Zürich aber wird die Bühne wieder zum Krematorium, das Stück dennoch nicht zur Tragödie. Es bleibt der Appell, die Freiheit des Eros zu lieben, die Freiheit überhaupt. Emanzipation als Befreiung.
Der Regisseur unterliegt mitnichten der Versuchung, die Oper über die Fallstricke der Liebe zu einer Parabel über Wladimir Putins Russland zu politisieren. Aber um die Freiheit geht es in Così fan tutte doch auch. Das famose Sängerensemble trug zum Verbeugen T-Shirts mit dem Konterfei des Regisseurs. „Free Kirill!“ Auch deshalb tosender Beifall des aufgekratzten Publikums.
Così fan tutte Regie: Kirill Serebrennikow, Jewgenij Kulagin Opernhaus Zürich
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