Der allgegenwärtige Digitalboom hat für die Industrie einen unerfreulichen Nebeneffekt: In diesem Jahr sind Halbleiter und andere elektronische Bauteile so knapp wie seit langem nicht. Erstmals gab es in den vergangenen Monaten nach Angaben aus der Branche Mangel bei Allerwelts-Bauteilen wie Kondensatoren oder Widerständen. „Am stärksten betroffen waren die Autohersteller und die Automatisierungsindustrie“, sagte Christoph Stoppok, Geschäftsführer des Fachverbands Electronic Components and Systems (ECEI). An diesem Dienstag beginnt in München die Electronica, mit mehr als 3000 Ausstellern die internationale Leitmesse der Branche.
Folge der Knappheit sind lange Lieferzeiten und höhere Preise — wiewohl der Fachverband sich zu letzterem Thema nicht äußert. Aktuell ist der Höhepunkt der Knappheit nach Stoppoks Angaben zwar überschritten, da sich die Konjunktur abschwächt. Vollständig normalisiert hat sich die Lage aber nach Industrieangaben bisher nicht.
„Das Außergewöhnliche ist dieses Mal, dass auch passive Bauelemente und andere Produkte knapp waren, insbesondere Mehrschicht-Keramikkondensatoren“, sagte Stoppok. Passive Bauelemente heißen passiv, weil sie ein elektrisches Signal in einem Schaltkreis nicht verstärken können, dazu gehört Massenware wie Widerstände oder Kondensatoren.
Zwei Faktoren haben zu der Knappheit beigetragen: die seit Jahren andauernde gute Konjunktur und die Tatsache, dass in Industrieprodukten immer mehr Funktionen elektronisch geregelt werden.
Beispiel Auto: Vom Bordcomputer über Motorsteuerung und Fahrerassistenzsysteme bis zu Komfortfunktionen wie der Sitzheizung sind eine Vielzahl elektronisch gesteuerter Schaltungen notwendig. „In aktuellen Audi-Modellen sind mittlerweile zum Teil mehr als 100 vernetzte Steuergeräte im Einsatz“, heißt es bei der Ingolstädter VW-Tochter.
„Der Anteil von Halbleitern und passiven Bauelementen ist innerhalb der letzten Jahre ebenfalls stark angestiegen“, sagte eine Sprecherin. „So sind in einem voll ausgestatteten Premiumauto bis zu 10.000 Halbleiter und ein Vielfaches davon an passiven Bauelementen — Kondensatoren, Widerstände und so weiter — verbaut.“
Produktionsverzögerungen gab es nach Audi-Angaben nicht. „Wir haben die Anzeichen für die aktuelle Marktsituation frühzeitig erkannt und uns darauf eingestellt“, sagte die Sprecherin. „Wir sehen für 2019 in einigen Bereichen aber weiterhin ein forderndes Marktumfeld.“
Auch beim Münchner Rivalen BMW heißt es, die Knappheit elektronischer Bauteile sei nicht gänzlich abgestellt, aber beherrschbar. Beide Autohersteller legen großen Wert auf gute Beziehungen zu ihren Lieferanten. Denn nicht nur die Autoindustrie geht davon aus, dass bedingt durch den technischen Fortschritt der Bedarf an elektronischen Bauteilen in den nächsten Jahren weiter steigen wird.
Geradezu einen Boom gibt es bei Sensoren, die in immer mehr Lebensbereichen zum Einsatz kommen — seien es optische Sensoren für Autos, medizinische Sensoren zur Messung von Körperfunktionen oder industrielle Sensoren für die Überwachung von Maschinen.
Die Elektronisierung wird nach Einschätzung von Fachleuten in den nächsten Jahren massiv voranschreiten. In der Industrie sind Automatisierung und Robotik derzeit zwei ganz große Themen — und ohne elektronische Messung und Steuerung nicht denkbar.
Und auch das Alltagsleben wird technologisch komplexer — ob E-Bike, mobiles Bezahlen im Geschäft oder selbstregelnde Heizung. Der Zentralverband der Elektronik- und Elektrotechnikindustrie (ZVEI) schätzte im April, dass die weltweiten Umsätze mit Mikroelektronik von 2017 bis 2022 um knapp 90 Milliarden auf eine halbe Billion Dollar zulegen werden.
Dementsprechend haben sich so viele Aussteller zur Electronica angemeldet wie noch nie: Mehr als 3.000 Unternehmen wollen an dem viertägigen Branchentreffen teilnehmen. Auch zwei große Münchner Unternehmen spielen in ihren jeweiligen Geschäftsgebieten eine maßgebliche Rolle auf dem Elektronikmarkt: Bei Halbleitern zählt der Münchner Konzern Infineon zur Weltspitze, bei LEDs und optischen Sensoren Osram.