Das Münchner Forum des Jahres 2018 war so unverzichtbar, wie es vergeblich wirkte. Als sollte dieses Treffen als „große Gereiztheit“ (Thomas Mann) bestätigen, was der Konferenzvorsitzende Wolfgang Ischinger zuvor angemerkt hatte: Die Weltordnung ist gehörig aus dem Ruder gelaufen. Seit dem Verschwinden der Sowjetunion Ende 1991 gab es keine Zeit, in der eine solche Gefahr bestand, dass Großmächte in einer militärischen Konfrontation aneinandergeraten. Staaten dieses Kalibers verfügen ausnahmslos über Kernwaffen. Dass bei einem bewaffneten Konflikt die Hemmschwelle sinkt, davon Gebrauch zu machen, steht außer Frage. Wann, wenn nicht jetzt, sollte dem Einhalt geboten werden?
Leider offenbarten Statements und Debatten im Hotel Bayerischer Hof, dass niemand gewillt ist, sein Rollenverständnis aufzugeben. Lieber den Erwartungen gerecht werden, eine giftige Rhetorik pflegen und wie Israels Premier Netanjahu auf kriegerische Einlagen bedacht sein. Was kann Gastgeber Deutschland dagegen tun? Jedenfalls mehr, als sich auf Ratlosigkeit, Ohnmacht oder eine leider nur geschäftsführende Regierung herauszureden. Zum Beispiel ließe sich statt des besorgten ein beschämtes Gesicht auflegen, weil der eigene Anteil an einer Welt, in der aus erklärten Gegnern zusehends erbitterte Feinde werden, unbestreitbar ist.
Wolfgang Ischinger hat darauf verzichtet und stattdessen die erodierende Macht des Westens beklagt, dazu einen „Schließt die Reihen“-Appell lanciert. Nur was helfen Wagenburg und Grabenkampf, wenn die Zeit drängt, über eine Koexistenz der politischen Kulturen nachzudenken? Nicht allein im Nahen Osten, in Nord- und Zentralafrika oder in Mittelasien, auch in Osteuropa und Nordamerika stößt das liberale westliche Modell auf mehr Abwehr als Akzeptanz. Da steht ein Missionar auf verlorenem Posten, der ein heidnisches Übergewicht zur Räson bringen will. Situationsgerechter wäre es, nach eigenen Überlebensstrategien Ausschau zu halten, auf Verständigung statt Kampfansagen, auf die Demut der Diplomatie, auf die Gabe der Zurückhaltung zu setzen. Der liberale Westen erntet mit einer ins Chaos driftenden Welt nun einmal, was er gesät hat, und sollte seinen Augen und seinem Erinnerungsvermögen trauen. Seit den 1990er Jahren wurde stets irgendwo interveniert, die UN-Charta wie das Recht auf Leben gebrochen – in Panama, in Somalia, in Serbien, in Afghanistan, in Irak, in Mali, in Libyen, in Syrien. Millionen Menschen haben Demokratieversprechen als Kriegserklärung erlebt. Das durch eine NATO-Operation von Muammar al-Gaddafi befreite Libyen ist heute ein Refugium des Terrors, das von den Taliban vorübergehend befreite Afghanistan nicht minder. Fällt eigentlich niemandem auf, dass eines nicht fernen Tages Rache zur Raison d’être der in Krieg, Not und einen steten Überlebenskampf Gestürzten werden könnte?
Auf der 50. Sicherheitskonferenz vor vier Jahren hatten der damalige Bundespräsident Gauck wie die Minister von der Leyen und Steinmeier für Deutschland ein Mandat der globalen Zuständigkeit beansprucht. Warum nicht davon Gebrauch machen, indem auf einen Weltzustand der unversöhnlichen Gegensätze nicht länger mit anachronistischen Rezepturen reagiert wird: mehr Rüstung, modernere Kernwaffen, harte Kante zeigen, die üblichen Konkurrenzimperative bedienen. Lob denen, die aus der Hermetik des Wir oder Die ausbrechen! Es braucht dazu Zivilcourage, mehr aber ein existenzielles Gespür für die eigene Verwundbarkeit.
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