Seit vergangenen Januar habe ich ein neues Hobby: brasilianisches Jiu-Jitsu. Falls du noch nie davon gehört hast: Jiu-Jitsu ist eine Selbstverteidigungs- und Kampfsportart, die Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde und ihren Ursprung im Judo hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon etwa drei Jahre lang Krafttraining gemacht, was aber langsam anfing, etwas langweilig zu werden. Deshalb war ich auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Zu Beginn war es entmutigend, mit etwas anzufangen, von dem ich nicht wirklich eine Ahnung hatte, aber ich bin froh, dass ich es trotzdem durchgezogen habe.
Die Sache mit brasilianischem Jiu-Jitsu (oder BJJ) ist, dass es alles andere als tempogeladen ist. Du brauchst zehn bis fünfzehn Jahre hartes, konsequentes Training, um auch nur annähernd als Experte oder Expertin zu gelten, und vielleicht zwei Jahre, bevor du auch nur annähernd so etwas wie kompetent bist. Wenn du es bis zum schwarzen Gürtel schaffst, dem höchsten der fünf Hauptränge (der weiße ist der niedrigste), bist du aber noch lange nicht fertig. Für Expert:innen gibt es nämlich noch zwei weitere Gürtel, die erlangt werden können. Damit ist dieser Sport ein ständiger, oft lebenslanger Prozess des Lernprozesses, der es erforderlich macht, dich immer wieder anzupassen.
Selbst wenn ich jeden Tag den ganzen Tag lang trainieren würde, würde es trotz Pandemie mindestens zwei Jahre dauern, um den nächsten Gürtel zu erlangen. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich fast sofort in diesen Sport verliebte: Um richtig gut darin zu werden, brauchst du einen langen Atem. Es fühlt sich wie das perfekte Elixier für die Welt an, in der wir leben, die alles verherrlicht, was mit wenig Aufwand verbunden ist, aber eine schnelle Belohnung bringt (denk nur mal an die sofortige Genugtuung, wenn du etwas auf Instagram postest und die ersten Likes eintrudeln).
Bei BJJ gibt dein:e Trainer:in das Tempo vor, und du lernst nicht nur, dem Ablauf zu vertrauen, sondern ihn auch zu genießen. Wenn du deinen Perfektionismus nicht ablegen und dich dem Gefühl, ein:e völlige:r Anfänger:in zu sein, nicht hingibst, wirst du es wahrscheinlich nicht über den weißen Gürtel hinaus schaffen. Für jemanden, der am Anfang seiner beruflichen Laufbahn stand und ständig befürchtete, hinter Gleichaltrigen zurückzubleiben, war das eine echte Offenbarung.
Martyn Cahill hat den schwarzen Gürtel zweiten Grades und ist Cheftrainer und Mitinhaber von Fighting Fit Manchester, einem auf Kampfsport und Fitness spezialisierten Fitnessstudio. „Neu in einer Sportart wie BJJ zu sein, kann sich aus mehreren Gründen entmutigend anfühlen“, erklärt er. „Es ist ganz normal, dass jemand schnell Fortschritte machen möchte, aber Anfänger:innen sollten sich damit abfinden, dass das nicht von heute auf morgen möglich ist.“
„Als Anfänger:in bist du nicht an Erwartungen gebunden“, fährt er fort. „Erwartungen an dich selbst können das eigene Wachstum behindern, da der Druck, ein bestimmtes Niveau zu erreichen, Angst vor dem Versagen erzeugen kann. Das kann dazu führen, dass sich ein:e Schüler:in vor neuen Herausforderungen zu scheuen beginnt und so aufhört, sich weiterzuentwickeln.“
Ich halte das für eine perfekte Analogie fürs Leben. Eine Studie aus dem Jahr 2018 ergab, dass Perfektionismus unter jungen Menschen zunimmt. Millennials streben heute mit zehn Prozent höherer Wahrscheinlichkeit nach Perfektion als junge Menschen in den späten 1980er Jahren. Ich erlebe allzu oft, dass Menschen sich darüber aufregen, dass sie nicht da sind, wo sie ihrer Meinung nach sein sollten, insbesondere im Vergleich zu anderen. Diese Art von Denkmuster, das als „Vergleichen und Verzweifeln“ bezeichnet werden könnte, tritt in allen Lebensbereichen auf: im Berufsleben, in Beziehungen, in Sachen Fitness – einfach alles.
Da ich relativ spät in das Fachgebiet meiner Wahl einstieg (im Vergleich zu vielen meiner Kolleg:innen), fühlte ich mich aufgrund meiner mangelnden Erfahrung, meiner fehlenden Kontakte in der Branche und meiner mangelnden Fähigkeit, gleich von Anfang an Arbeit zu finden, weniger wert. Ich verbrachte meine Tage damit, frustriert darüber zu sein, dass ich noch nicht da war, wo ich hinwollte, und wünschte mir die Zeit weg, die ich brauchen würde, um dorthin zu gelangen. Jetzt weiß ich aber, dass diese Zeit oft die prägendste und wichtigste ist. Als ich aufhörte, so viel Wert auf Ziele und Ergebnisse zu legen, konnte ich die Systeme und Prozesse schätzen und annehmen, die sie überhaupt erst möglich machen.
Dr. Craig Knight ist Psychologe und Forschungsbeauftragter an der Universität Exeter. Wenn wir uns auf Ergebnisse fixieren, so erklärt er mir, neigen wir dazu, jene Dinge zu vergessen, die wirklich wichtig sind. „Bei der Arbeit geht es oft hauptsächlich um die Ergebnisse, die es zu erzielen gilt, und weniger darum, ob die Person Spaß am Job hat oder nicht. In einer Beziehung – in der es unzählige Ziele auf unterschiedlichen Ebenen gibt – wirst du mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern, wenn du Dinge nicht aushandeln und die Wege nicht genießen kannst, die du einschlägst.“
Damit hat er Recht. Stell dir vor, du bist seit fast zehn Jahren mit deinem Partner oder deiner Partnerin zusammen und er oder sie hat dir noch immer keinen Antrag gemacht. Alle deine Freund:innen sind entweder verlobt oder verheiratet, und du wünschst dir nichts sehnlicher, als dass dein:e Partner:in auf die Knie geht und einen großen, glänzenden Ring zückt. Das ist doch der einzig logische nächste Schritt, oder?
Bei jeder Verabredung, jedem Urlaub und sogar bei jedem Geburtstag erwartest du deinen Traumantrag. Und jedes Mal wirst du enttäuscht. So entgeht dir die Freude an euren Dates, Urlauben oder Geburtstagen, weil sie durch falsche Erwartungen ruiniert werden. Eines Tages blickst du zurück und stellst fest, wie viel Zeit du damit verschwendet hast, enttäuscht oder verärgert darüber zu sein, obwohl du die Zeit mit der Person, die du liebst, hättest genießen können.
Und was passiert, wenn wir dort ankommen, wo wir hin wollen, und es nicht dem entspricht, was wir erwarteten? Was, wenn wir uns nicht erfüllt fühlen? Was ist, wenn wir auf eine Zeit zurückblicken und feststellen, dass wir so viel Zeit damit verbracht haben, uns etwas zu wünschen – auf Kosten unseres eigenen Vergnügens –, das wir sowieso nicht wollten?
Die meisten von uns verbrachten jede Minute der Schulzeit damit, sich auf den Tag zu freuen, an dem wir endlich mit der Schule fertig sein würden. Und siehe da, unsere Schulzeit war (größtenteils) die unbesorgteste Phase unseres Lebens. Wenn ich jetzt zurückblicke, sehne ich mich beinahe schon nach den Sorgen, die ich damals hatte.
Dieses ständige Streben nach Perfektionismus kann uns davon abhalten, im Augenblick zu leben, und es kann, so Dr. Knight, anstrengend sein. „Perfektionist:innen neigen dazu, sich zu sehr vorzubereiten, sich zu viele Sorgen zu machen und haben häufig angestaute Emotionen“, sagt er. „Bei Anfänger:innen ist genau das Gegenteil der Fall“, und wenn wir das willkommen heißen, wann immer wir etwas von Grund auf neu beginnen, kann das gut für unser geistiges Wohlbefinden sein.
„Das liegt daran, dass es zwei Formen von Stress gibt: Distress und Eustress“, sagt Dr. Knight. „Eustress ist positiver Stress, den wir empfinden, wenn wir die nötigen praktischen, körperlichen und emotionalen Ressourcen haben, um eine Herausforderung zu bewältigen,. Wenn wir ein Projekt haben, an dem wir arbeiten oder es etwas gibt in unserem Leben, auf das wir uns freuen können, dann kann das unserer Gesundheit, Motivation, Leistungsstärke und unserem emotionalen Wohlbefinden zugute kommen.“
Und nicht nur das: Wie Martyn betont, ist die Zeit als Anfänger:in die einzige Zeit, in der es keinen äußeren Druck gibt. „Als Anfänger:in wird von dir erwartet, dass du scheiterst und immer wieder scheiterst, daher wird jeder Erfolg positiv und mit Stolz aufgenommen“, sagt er. Jeder vermeintliche Misserfolg – sei es, dass du den Job nicht bekommst, für den du dich beworben hast, oder dass du dich auf der Matte nicht gut genug verteidigen kannst – wird als fester Bestandteil des Lernprozesses einer neuen Sache betrachtet.
Wenn wir das als Tatsache anerkennen, schaffen wir viel mehr Raum für Mitgefühl. Wir müssen uns die Möglichkeit geben, zu scheitern, daraus zu lernen und auf diese Weise zu wachsen.
Jede:r von uns braucht eine bestimmte Anzahl von Stunden, um eine Fähigkeit zu beherrschen. Und die Stunden, die du damit verbringst, dich damit zu quälen, dass du nicht genug weißt oder langsamer vorankommst als andere, sind Stunden, die du damit hättest verbringen können, diese Sache zu perfektionieren. In dieser Zeit hättest du auch lernen können, dich zu akzeptieren, an deinem geistigen Wohlbefinden zu arbeiten oder was auch immer du zu erreichen hoffst.
Während der letzten Monate war mein Leben auf Eis: Mein Uni-Abschluss und die Pandemie haben mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Alles – von meiner Arbeit bis zu meinen Hobbys und sogar meine BJJ-Stunden, mussten pausieren. Ohne die Einstellung, die ich seit Anfang 2020 habe, wäre es mir viel schwerer gefallen, das Tempo in meinem Leben zu drosseln.
Das Leben verändert sich ständig und wir müssen uns immer an Veränderungen anpassen, dazulernen und uns weiterentwickeln. Ich werde nicht von heute auf morgen das Leben haben, das ich mir wünsche. Was wäre denn auch der Spaß daran? Schließlich ist doch der Weg das Ziel.
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Warum Aufgeben manchmal gut ist