Mehr Rechte für Arbeitnehmer, mehr Aufwand für Arbeitgeber: Nach einem Grundsatzurteil verfallen ungenutzte Urlaubstage nicht mehr automatisch. Stattdessen müssen Arbeitgeber ihre Beschäftigten in Zukunft auffordern, noch nicht beantragten Urlaub zu nehmen und darauf hinweisen, dass er sonst erlischt. Das hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) am Dienstag in Erfurt entschieden.
Mit ihrem Grundsatzurteil entwickelten die Bundesarbeitsrichter nach eigener Aussage die Rechtssprechung zu Urlaubsansprüchen weiter. Zuvor hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) Vorgaben gemacht.
Nach Ansicht von Experten können Beschäftigte nun prüfen, ob sie vielleicht doch noch Anspruch auf Urlaub haben, von dem sie dachten, dass er verfallen sei. „Ich würde Arbeitnehmern raten, verfallen geglaubte Urlaubsansprüche nachzufordern — solange es keine tarifliche Verfallsklausel oder eine Verjährung der Ansprüche gibt“, sagte der Tübinger Arbeitsrechtler Hermann Reichold. Mehrere Arbeitsrechtler bezeichneten das Urteil als „arbeitnehmerfreundlich.“
Welche Auswirkungen die Entscheidung der Erfurter Richter für Arbeitgeber hat — darüber gingen die Meinungen teils auseinander. „Für Arbeitgeber bedeutet die Entscheidung auf jeden Fall erheblich mehr Aufwand“, sagte Reichold.
Sein Göttinger Kollege, der Arbeitsrechtler Olaf Deinert sagte, das Urteil bedeute zwar mehr Aufwand, „als gar nichts zu tun. Aber die meisten Arbeitgeber prüfen ohnehin, wie viel Urlaubsansprüche ihre Beschäftigten haben“, betonte Deinert. Daher sehe er in der Pflicht des Arbeitgebers, seine Beschäftigten über ihre Urlaubsansprüche aufzuklären, keine große Herausforderung. „Die spannende Frage ist, wie konkret und genau der Arbeitgeber seine Beschäftigten auf die Urlaubsansprüche hinweisen muss“, sagte er.
Das ließen die Bundesarbeitsrichter weitgehend offen. Arbeitgeber müssen ihre Angestellten „klar und rechtzeitig“ auf nicht genommenen Urlaub hinweisen, wie der vorsitzende BAG-Richter Heinrich Kiel in Erfurt sagte. Offen blieb, wann ein Hinweis rechtzeitig kommt. „Dieser Punkt wird die Rechtssprechung in Zukunft sicher noch beschäftigen“, sagte Oliver Klose, Sprecher beim Bundesarbeitsgericht. Nach Deinerts Einschätzung wird eine „in allgemeiner Form an die Belegschaft gerichtete Information“ wohl kaum genügen.
Anlass für die Grundsatzentscheidung des höchsten deutschen Arbeitsgerichts war ein Fall aus Bayern. Geklagt hatte ein Wissenschaftler, der 51 Tage Urlaub aus den Jahren 2012 und 2013 bezahlt haben möchte, den er bis zum Ende seines Arbeitsvertrages nicht mehr genommen hatte. Er war bei der Max-Planck-Gesellschaft in München angestellt und wurde nach den Tarif-Regeln des Öffentlichen Dienstes beschäftigt. Für seinen nicht genommenen Urlaub verlangt der Forscher eine Abgeltung in Höhe von fast 12.000 Euro.
Die Max-Planck-Gesellschaft hatten nach eigenen Angaben den Wissenschaftler in einer E-Mail auf seine Urlaubsansprüche hingewiesen. Der Forscher dagegen bestreitet, frühzeitig per Mail informiert worden zu sein. Wegen der unklaren Faktenlage fällte das BAG in dem konkreten Fall kein Urteil, sondern verwies ihn erneut an das Landesarbeitsgericht (LAG) München.
Der Europäische Gerichtshof hatte sich ebenfalls mit dem Fall beschäftigt und im November 2018 entschieden, dass Arbeitnehmer durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt werden müssen, ihren Urlaubsanspruch wahrzunehmen. Diese Rechtssprechung mussten die Erfurter Richter bei ihrer Entscheidung berücksichtigen.